Kapitel 2: Charlotte und das "Einhorn"
Am Morgen trafen sich Eva, Maria, Paula, Lia, Runa und Jenny wie vereinbart bei der Eisdiele.
Maria war als erste strahlend am Treffpunkt angekommen. Dabei trug sie einen pinken Pulli mit der goldenen Aufschrift 'woman'.
Als alle da waren, bestellte sich jede ihr Eis.
Eva
nahm 'Kaktusfeige', Maria 'Stracciatella" (also Vanille mit Schokostückchen), Paula 'Schokolade', Lia
'Waldmeister' und 'Himbeere', Runa auch 'Himbeere' und Jenny 'Mango'.
"Wisst ihr noch, gestern bei dem Tanzball, da hatte ich doch einen Tanzpartner, ne?", fragte Runa in die Runde.
"Ja, und ich zum Beispiel nicht", sagte Lia und sah ein wenig verbittert zu Boden.
"Richtig, darum geht es jetzt aber nicht", fuhr Runa fort und Jenny ergänzte frech grinsend: "Genau, Lia!"
"Es geht nämlich um meinen Tanzpartner, den es schon gab", sagte Runa. "Ich finde, er sah voll aus wie Julia."
"Vielleicht war das ja Julias Bruder, dieser Nandre", sagte Maria.
"Bestimmt! Er hat mir gesagt, dass er Nandre Schuhmacher heißt!", rief Runa.
"Julia
hat mir mal gesagt, dass er ganz sympathisch ist, aber auch ziemlich
verliebt sein kann, und dass er das" - sie machte eine kurze Pause -
"auch recht schnell werden kann", erklärte Maria.
"Nee, dann ist der
echt nicht mein Typ. Denn wenn ich dann erst wieder auf ihn zukomme, hat
er sich bestimmt schon eine andere ausgesucht", sagte Runa.
"Apropos Geschwister", sagte Maria, "da war ja auch noch so ein schwarzhaariger mit einem übergroßen Anzug. Der hat mich auch an wen erinnert."
"Ja, mich auch. An Lina oder Vera oder so." Paula schleckte an ihrem Schokoeis.
"Stimmt! Vera! Ich wusste gar nicht, dass Vera einen Bruder hat! Ich dachte immer, sie ist ein Einzelkind", sagte Maria.
"Ehrlich
gesagt, mein Tanzpartner gefällt mir schon ganz gut. Aber das ist
natürlich nur unter uns", flüsterte Jenny Runa zu. "Ich weiß, das ist
total unvernünftig und verrückt von mir, aber ich bin eben so", sagte
sie nach ein paar stillen Sekunden.
Aber natürlich blieb es nicht ganz unter ihnen... Denn Lia sagte: "Waaas, du bist schon verliebt?"
"Nichts
da! Das war nix wichtiges! Lia, das geht dich nichts an! Misch dich
nicht ein, ey!", schrie Jenny und wurde dabei immer lauter.
"Ich will
darüber etwas herausfinden und ich mische mich gar nicht ein und das
war etwas wichtiges und das geht mich an! Jetzt fängst du auch noch
Geheimnisse mit Runa an! Jenny, du bist gemein!", rief Lia. Ihre Stimme
wurde dabei weinerlicher und weinerlicher.
Runa kam mit.
"Geh nicht weg!", schrie Lia wütend und rannte ihnen hinterher.
"Ha, da bist du ja, kleines Biest! Wie böse du bist! Lia Kiowski, ich mein's ernst! Hör auf, lass es, geh weg von mir, hau ab! Und damit basta!", rief Jenny und tastete gereizt ihren schwarzen Dutt ab, und dann weiter: "So, du gehst nicht weg? Megäre, Furie, ganz ganz böse Furie!"
"Genau, eine ganz böse, saure Furie bist du, Lia!", sagte Runa.
"Was ist?", fragte Paula, die immer noch genüsslich ihr Schokoeis schleckte.
Lia setzte sich auf den harten Steinboden und verbarg das Gesicht in den
Händen. Zuerst brachte sie keinen Ton heraus, doch dann legte sie die
Hände auf die Knie, es wurde sichtbar, dass ihr Tränen über die Wangen
liefen, und sie fragte: "Warum bin ich ausgerechnet ich?"
Paula gab
Maria ein Zeichen, sie solle kurz ihr Eis halten, und hockte sich zu
Lia. "Erklär mal. Was bedeutet das, was du gerade gesagt hast?"
Lia starrte traurig auf den Boden. "Dass ich ein... Pechsi bin. Dass es tausende Nachteile gibt, ich zu sein."
Paula strich ihr sanft über den Oberarm. "Welche zum Beispiel?", fragte sie.
Lia
wischte sich eine Träne aus dem Auge. "Dass der Ukraine-Krieg
zweitausendzweiundzwanzig begonnen wurde und bis jetzt, wo es schon zweitausendvierundzwanzig ist, nicht aufgehört
hat", schniefte sie.
"Aber das betrifft uns doch gar nicht richtig", mischte sich Lina ein, die die beiden schon eine Weile beobachtet hatte.
Lia
sah traurig zu ihr hinauf. "Doch, mich schon", sagte sie leise. "Meine
Eltern kommen aus der Ukraine. Und mein Vater kämpft dort."
Lina streifte sie mit einem abschätzigen Blick. "Wie heißt er denn, dein Vater?", fragte sie.
"Andrij Kiowski", antwortete Lia.
Lina grinste verschwörerisch. "Aha! War er denn auch bei der Armee dabei, die Russland angegriffen hat?", wollte sie wissen.
Lia
wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann stand sie auf und sah
Lina direkt in die Augen. "Russland hat die Ukraine angegriffen und
nicht andersrum!"
Lina lachte gehässig. "Sehr interessant! Was hast du denn noch für Einzelteile? Ich höre dir gerne zu!"
Lia
ballte die Fäuste. "Dass Russland den weißrussischen Präsidenten zu
seiner Marionette gemacht hat und von Weißrussland aus die Ukraine
angegriffen hat! Dass Russland eine Rakete geworfen hat, die bis nach
Moldawien geflogen ist! Dass Russland der Ukraine versprochen hat, sie
nicht anzugreifen, aber sein Versprechen nicht gehalten hat!", rief sie.
Lina
funkelte sie mit ihren braunen Augen böse an. Plötzlich sah sie mit
ihren roten Schuhen, ihrem pechschwarzen Kapuzenpulli und ihren
schwarzen Ledershorts über der schwarzen Leggins sehr bedrohlich aus.
"Das sind alles Lügen! Du kennst die Wahrheit nicht!", schrie sie.
Lia wich einen Schritt zurück. "H-Hörst du zufällig chinesisches Radio?", fragte sie langsam.
"Natürlich, jeden Tag!", entgegnete Lina.
"Russland
hat sich mit China verbündet", sagte Lia. "Putin und Xi sind Komplizen.
Das chinesische Radio ist Propaganda-Radio. Die Chinesen hören es jeden
Tag und glauben die Lügen."
Lina setzte ihre Kapuze auf. "Willst du
damit etwa sagen, dass Chinesen leichtgläubige Hühner sind, die jedes
Gerücht glauben, das ihnen zu Ohren kommt, und auf jede List
hereinfallen? Da irrst du dich! Chinesen glauben nur die Wahrheit! Und
deshalb glaube ich dir kein Wort, denn du lügst!"
"Natürlich denke ich nicht, dass Chinesen leichtgläubige Hühner sind", sagte Lia,"aber ich sage die Wahrheit und lüge nicht!"
Lina krempelte angriffslustig die Ärmel hoch.
Isabella und Tanja waren selbstständig zurückgekehrt und Marlen und Isabella haben sich vertragen. Tanja hatte dazu übrigens nicht beigetragen und schaute nur zu, während sie immer noch neben Isabella stand und auch keine Anstalten machte, sich neben Marlen zu stellen.
Plötzlich hörte man ein lautes Keuchen. Es kam von Anne. Sie, Charlotte und Carla waren zurückgekommen.Jubelschreie erklangen - die meisten kamen von Vera. Sie stieß allerdings auch einen extrem verräterischen aus, nämlich: "Jaaa, Charlotte ist schwanger!"
Die WG-Bewohnerinnen machten große Augen und fingen an noch lauter zu jubeln. Anne runzelte die Stirn. "Sollte das nicht ein Geheimnis sein?"
Nach diesem Satz fragte Vera frech: "Charlotte, darf ich mal deinen Bauch anfassen oder ihn wenigstens ohne Kleidung sehen? Ich will ja auch nur mal gucken. Und ich hab noch nie so einen Bauch gesehen."
Charlotte rief mechanisch: "Nie und nimmer! Ich möchte nicht, das andere Leute meinen Bauch einfach so anfassen! Also auch nicht du!" Sie drehte sich schnell um, damit Vera ihren Bauch auf gar keinen Fall anfassen konnte.
"Recht so", sagte Carla froh.
Charlotte fügte gekränkt hinzu: "Außerdem hab ich viel mehr Unterstützerinnen, die auf meiner Seite sind!"
Vera dachte im Geheimen: Nö, gar nicht. Laut sagte sie: "Hast du überhaupt nicht."
Charlotte war sehr verletzt. Sie winselte stark getroffen: "Aber jedenfalls mehr als du!"
Das fand Vera richtig frech und gab kritisch zurück: "Du bildest dir bloß ein, dass du viel beliebter bist. Stimmt aber gar nicht."
Carla wollte Charlotte beschützen: "Geh jetzt bitte weg, Vera. Ich will mich nicht einmischen, aber Charlotte benötigt dringend Erholung. Ich möchte es nicht mit ansehen, wie ihr euch streitet", sagte sie und schob Charlotte mit ihrer kleinen, braunen Hand beiseite.
"Aha, wenn das so ist", meinte Vera, und fügte an: "Dann kann sich das 'arme Charlottchen' auf das Kissen hier setzen, das ist gemütlich und weich."
"Nein", kreischte Charlotte, "ich denke dass es ein Furzkissen ist!"
"Hmpf, dann kann ich ja auch denken, dass sich ein Einhorn mit dir gepaart hat", entgegenete ihre Rivalin stur.
Das war Charlotte jetzt wirklich zu viel. Sie schüttelte den in ihren Händen gebetteten Kopf heftig und schluchzte tief beleidigt: "Hilfe, jetzt kann ich mich echt gar nicht mehr wehren! Die ist viel zu böse und gibt nie auf! Hilfe! Helft mir doch mal! Huhu, hier bin ich!" Eigentlich hätte sie richtig gerne gesagt: "Haha, sehr witzig", doch dazu fand sie irgendwie nicht den Mut.
Vera verschwand in ihrer WG. Sie fand Vanessa schlafend und Lisa gelangweilt Fernsehen guckend auf dem Sofa vor. Lisa richtete langsam die Augen vom Fernseher auf Vera und fragte sie, warum sie so lange draußen geblieben war.
Vera musterte die Gestalt mit den blauen Augen und den blonden Haaren. Sie wollte prüfen, ob Lisa in der Lage war, ihr zu vergeben.
Lisa sagte eindringlich: "Na, was hast du da draußen getrieben?"
Vanessa wurde langsam wach. "Worum gehts...?", fragte sie und kämmte sich ihr braunes, glattes Haar.
Lisas und wahrscheinlich auch Vanessas Gesprächspartnerin seufzte. "Wenn ihr mir jetzt wirklich nicht böse seid, sag ich's euch."
"Ich bin dir bestimmt nicht böse", sagte Lisa.
"Ich werde einkaufen und so keinen doofen oder blöden Kommentar abgeben", schwor Vanessa.
"Also", begann Vera, "erst war alles noch in Ordnung, als man ein Ächzen und Schnaufen von Anne hörte. Dann eins von Carla und dann ein erschöpftes von der bösen Charlotte. Plötzlich bemerkte ich, dass diese schwanger war. Ich fing an, es bekannt zu machen. Als der Jubel ein wenig leiser geworden war, denn die anderen haben mitgejubelt, bin ich zu ihr gegangen und bat sie, ihren Bauch anfassen zu dürfen. Doch sie wollte es mir komischerweise verweigern. Sie fing Streit an und wir stritten hin und her. Irgendwann begann sie zu heulen und das Mitleid von allen Leuten auf sich zu ziehen. Die Leute waren der Meinung, dass ich kein Mitleid verdient hätte, was aber eigentlich ungerecht war. Dann hatte ich aber endgültig die Nase voll und bin zu euch gegangen. Und ich will ja auch niiie wieder so heftig streiten und an aaallem Schuld sein." Sie schniefte schuldbewusst.
"Ach so", sagte Vanessa und ging einkaufen.
Carla und Anne knieten sich zu Charlotte, die immer noch stark getroffen dastand.
"Du bist sicher zu Tode erschöpft vom Streit und von der heutigen Anstrengung und dem Stress allgemein", sagte Anne mitleidig.
Charlotte schwieg.
"Komm, wir gehen erst mal zur gemütlichen WG", sagte Carla. Sie und Anne stützten Charlotte und halfen ihr bis zur WG. Dort ließ sich Charlotte mit einem tiefen Seufzer auf das Sofa fallen.
Anne setzte sich zufrieden zu ihr. "Jetzt geht es dir schon wieder viel besser, oder?"
Charlotte schwieg.
Anne dachte schon fast, sie würde nicht mehr antworten, da stöhnte Charlotte: "Nein! Gar nicht!"
"Oh!", sagte Anne erschrocken.
Carla rannte mit einem Glas Wasser und einem Kühlkissen zu Charlotte. "Charlotte! Bist du am Leben? Was können wir für dich tun?", rief sie.
Für einige Sekunden herrschte schreckliche Stille, dann rief Charlotte: "Helfen!"
Carla legte ihr hektisch das Kühlkissen auf den Kopf. Anne deckte sie mit einer warmen Wolldecke zu.
Charlotte seufzte laut auf.
Anne und Carla dachten, es wäre ein Seufzer der Erleichterung und betrachteten zufrieden ihr Werk.
Anne stellte noch das Glas Wasser neben Charlotte, dann verließ sie mit langsamen Schritten das Wohnzimmer.
Carla blieb noch bei Charlotte. In ihr machte sich ein warmes Gefühl aus Freude, Zufriedenheit und Stolz breit und sie zog glücklich ihre Pantoffeln an.
Plötzlich klagte Charlotte: "Hilfe, dieser Stress und diese Anstrengung! Vera hat mir gar nicht gutgetan! Es geht mir total schlecht! Vera ist so mies! Nächstes Mal müsst ihr sie aufhalten, damit sie mir nicht wieder schaden kann!"
Carla war so erschrocken, dass sie ihre Zopfgummis in die Höhe schleuderte. "Was brauchst du?", fragte sie.
Charlotte antwortete nicht.
Carla betastete sie panisch. "Oh nein! Sie ist ohnmächtig!", schrie sie und hastete zu Anne. "Anne!", rief sie. "Charlotte ist ohnmächtig geworden!"
Anne sprang auf. "Dann müssen wir jetzt den Notarzt rufen!", rief sie. Ehe sie nach dem Telefon grabschen konnte, hatte Carla es schon in der Hand. Sie wählte die Nummer des Notarzts und rief panisch in den Hörer: "Charlotte Hildebrandt ist ohnmächtig geworden! Sie liegt in der WG von Carla Amadou und Anne Winter, die WG ist leicht zu finden! Sie ist bei den vielen WGs bei dem Abgrund! Kommen sie bitte so schnell wie möglich!"
Anne prustete laut los. "Das klang aber nicht gerade professionell!"
Carla wurde rot. "Ja, ich weiß eben nicht, wie ich es sonst machen soll. Alle nötigen Informationen waren dabei." ...
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