Kapitel 10: The power of now
Es war der neunundzwanzigste Juli, als Zarah und Nandre Schuhmacher Hand in Hand durch den Park schlenderten.
Evita, Judith und Meti folgten ihnen heimlich.
Zarah streichelte Nandre.
Nandre sagte zu ihr: "Du bist perfekt! Dein Blick, deine Stimme, dein Charakter, dein Aussehen... Alles."
Zarah pflückte eine Blüte von einem Strauch und murmelte: "Du hast mir ein Kompliment gegeben. Jetzt schenk ich dir was."
Nandre pflanzte ihr einen zarten Kuss auf die Wange. "Du bist die beste", sagte er.
"Stimmt doch gar nicht! Die ist blöd!", schimpfte Judith leise.
"Was hast du gesagt?", fragte Evita.
Judith zuckte nervös zusammen. "Äh... nix!", sagte sie.
"Was? Sag schon!", schrie Evita.
"Nie im Leben!", kam es zurück.
"Meti, Judith ist sauer auf mich!", sagte Evita wütend zu Meti.
Judith und Evita stritten hin und her.
"Du bist ja sooo schön, Nandre!", sagte Zarah. Es klang fast so, als würde sie stöhnen.
"Du auch", endgegnete Nandre.
Zarah kicherte. "Ich? Bist du nett!", meinte sie geschmeichelt.
"Ja, du!", beteuerte Nandre. "Du. Allein du. Nur du. Einzig und allein du." Er streichte Zarah über ihre Rastas.
"Du blamierst mich doch! Ach Nandre, hör auf! Bitte!", bat Zarah.
Nandre kitzelte sie unter den Achseln.
Zarah rief: "Hahahihihihi! Haa! Ich hab dich ja sooo lieb! Hihihuu! Huu! Hihi!"
Nandre kitzelte weiter.
"Das kitzelt! Huuho! Hoho! Haaa... hihihi! Stop, hihihu! Nicht weitermachen!", flehte Zarah lachend.
Nandre hörte auf.
"Uh, endlich! Danke, Nandre!", sagte Zarah und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Plötzlich drehte sich Nandre um.
Evita schrie: "Judith!"
Stille.
Dann
kreischte Zarah: "Uuuh! Oooh! Aaah! Nandre! Huhuhuuu! Huhuuu! Hilfe,
Nandre! Huuhuuhuuu!" Ihr Schreien wurde zu einem Weinen und Klagen.
"Was ist denn passiert, meine liebe Zarah?", fragte Nandre geschockt.
"Schau dir doch... huhuhuuu... meinen... huhuuu... schau dir doch meinen Ringfinger an, Nandre!", jammerte Zarah.
"Tatsächlich!", schimpfte Nandre. "Ohne Ring! Dreistheit! Wer war das?!"
"Judith! Sie wurde doch von Evita ertappt!", winselte Zarah.
"Judith! Dieses miese Monster!" Nandre ballte seine linke Faust. Mit der rechten Hand packte er Zarah.
Judith rannte weg, doch Nandre und Zarah verfolgten sie.
Judith lief in die Ecke eines Hauses.
"Judith! Gib mir meinen Ring wieder!", kreischte Zarah erbost.
"Mach schon! Schnell! Dalli!", rief Nandre.
Zu
seinem Erstaunen fiel Judith auf die Knie und flehte mit einem Ton in
der Stimme, den er nicht verstand: "Bitte tut mir nichts. Ich gebe euch
den Ring wieder. Aber..."
"Aber was?!", schrie Zarah.
"Aber ich werde sehr traurig sein. Ungefähr ein Jahr lang. Vielleicht länger oder vielleicht kürzer", antwortete Judith leise.
"Warum wirst du denn so traurig sein, wenn du den Ring hergeben musst?", fragte Nandre verwundert.
"Weil", endgegnete Judith und vermied es, ihm in die Augen zu schauen.
"Was heißt 'Weil'?!", schrie Zarah und funkelte Judith wütend an.
Judith murmelte irgendetwas unverständliches und sah zu Boden.
"Was?! Was bitte? Was hast du gesagt?", fragte Zarah eindringlich.
Judith schwieg.
"Pöh", machte Zarah und drehte sich um. "Komm, Nandre", fügte sie hinzu.
Nandre stolzierte mit ihr beleidigt davon und Judith blieb irritiert stehen.
"Halt! Ich gebe euch den Ring zurück!", rief sie nach einer Weile.
"Nö",
sagte Zarah kalt. "Die Zeit ist schon vorbei. Pech gehabt! Tja, dein
Problem. Übrigens, dir ist schon klar, dass du den neuen Ring bezahlst,
ne?"
"Vergib mir, Zarah, vergib mir!", rief Judith. Sie sprang auf und versuchte verzweifelt, Zarah und Nandre einzuholen.
"Vergiss es! So was verzeih ich dir niemals!", kam es beleidigt zurück.
Judith brach in bittere Tränen aus.
Nachdem
Nandre und Zarah einige Minuten still und nervös nebeneinander
hergelaufen waren, drehte sich Nandre um und sagte unfreundlich zu
Judith: "Gib den Ehering her!"
"Hier!", schluchzte Judith und gab Nandre den Ring.
Nandre steckte ihn Zarah an den Ringfinger und die beiden gingen mit schnellen Schritten davon.
Judith
sah den beiden traurig nach. Zu Tode betrübt sank sie auf einen großen
Stein. Schließlich jammerte sie: "Die letzte Hoffnung! Weg! Für immer!
Aber was kann ich da auch schon machen, ich eine kleine, dicke,
armselige, alleinstehende, winzige, weibliche, unnütze, von allen gehasste
Kreatur!" Sie schluchzte leise, dann breitete sich eine traurige Stille
aus.
Einige Sekunden vergingen, dann wurde die Stille von läutenden Kirchglocken unterbrochen. Als die letzten Töne verklungen waren, sagte Judith leise: "Na ja, eigentlich doch. Etwas grausames. Etwas grausames, verbrecherisches. Etwas grausames, verbrecherisches, was aber niemanden juckt. Egal, ich werd's tun. Wie grausam und verbrecherisch das auch ist. Wenigstens werd' ich dann nicht mehr so viel leiden müssen. Gott, verzeih mir meine Sünden, bevor ich's mache. Denn danach... na ja, danach werde ich auch keine mehr begehen können." Somit faltete sie die Hände zum Gebet.
"Hallo Lina, Hallo Julia!", rief Anne und stellte ihre Reisetasche auf den Boden.
"Wie schön! Du bist pünktlich da zu unserer Übernachtung!", sagte Lina.
Von Julia kam hingegen nur ein knappes: "Hi Anne."
"Hier, das Abendessen", sagte Lina.
Die drei setzten sich still zu Tisch. Sie beendeten schweigend das Abendessen.
Anne wollte das Schweigen nicht brechen, denn sie hatte Angst, dass man wie so oft nicht auf ihre Fragen antworten würde oder aus ihrem Satz kein Gespräch anfangen würde. So wies Anne nur auf die Servietten und schaute Julia fragend aber freundlich an.
Julia lächelte. Es sollte hilfsbereit aussehen. Doch Anne fand, dass Julia sie feindselig und hasserfüllt anstarrte. "Darf ich jetzt oder nicht?", fragte Anne ärgerlich.
Julia nickte.
Anne lief rot an.
Judith schlich durch das Dunkel der Nacht. Leise pochte sie an Gretas und Christinas Haustür.
Christina machte auf. "Was willst du um diese Zeit?", fragte sie. "Greta schläft schon, Judith!"
"Ein Taschenmesser."
"Wozu?"
"Um was grausames zu tun."
"Was denn?"
"Ich sag's dir lieber nicht."
"Na gut. Hier."
"Danke." Mit diesen Worten ging Judith hinter einem Baum und zückte das Taschenmesser.
Sie wollte sich gerade köpfen, da rief jemand so laut, dass das Taschenmesser ihr aus der Hand fiel: "Halt, Judith, tu das nicht! Das Leben gibt es nur ein einziges Mal im gesamten Universum! Es ist kostbar und wertvoll und man darf es nicht zu früh verlieren!"
Die Person war Christina. Sie streckte die Hand weit aus und in ihren braunen Augen sah man, dass sie es ernst meinte.
Doch Judith sah sie nur kurz und betrübt an, bückte sich seufzend wieder nach dem Taschenmesser, hob es auf und sagte leise: "Ich weiß, Christina. Ich weiß. Aber wenn ich sterbe, wird es niemanden kümmern. Meine Seele ist unnütz! Völlig unnütz!"
Doch Christina rief: "Mich wird es kümmern! Ich werde den ganzen Tag lang weinen und niemand wird mich trösten können! Ich werde quasi untröstlich sein! Sei so gnädig und töte dich nicht! Tu es für mich!" Der Zipfel ihres langen Morgenmantels wehte im Wind.
Judith kniete nieder. "Ich werde mich töten. Bring mich bitte nicht davon ab. Denn wenn ich gestorben bin und es niemanden kümmert, werden die Jahre vergehen, ohne dass ich leide. Ich leide nämlich. Das hast du doch geahnt, oder?"
Wenn Christina nicht neben ihr gestanden hätte, würde sie mutterseelenallein aussehen wie ein Waisenkind. Doch Christina stand neben ihr. Sie warf zwar einen langen Schatten auf die Landschaft, aber sie hatte das feurige Herz einer Spanierin.
Judith rannen die Tränen nur so über das Gesicht. "Oder? Hast du es geahnt?", fragte sie.
Christina antwortete: "Ich habe es geahnt. Du musst etwas Schlimmes erlebt haben, sodass du dich sogar töten willst. Was hast du erlebt? Sag es mir. Mir kannst du vertrauen." Sie versuchte, in Judith einen letzten Funken Hoffnung zu wecken.
Judith gab einen lauten Schluchzer von sich. Dann rief sie und gestikulierte dabei mit den Händen wild in der Luft herum: "Bevor ich mich töte, gestehe ich es. Aber hüte das Geheimnis! Denn es geht um.... Willst du das wirklich wissen?... Um... Liebe. Hör gut zu. Ich bin... in Nandre verliebt. Ich versuche, jemals mit ihm zusammenzukommen. Aber Zarah hindert mich daran! Ich wollte ihren Ring stehlen, damit ich vielleicht mehr Chancen hab. Aber es misslang mir. Ich kann nichts machen!"
Christina grinste aufmunternd und nahm Judiths kalte Hand. Dadurch, dass Christina das machte, spürte Judith, dass ein anderer Mensch bei ihr war und dass das keine Vision war und dass dieser Mensch Mitleid mit ihr hatte, barmherzig war und dass das, was dieser Mensch sagte, wichtig war.
Judith sah Christina traurig an.
Da fragte Christina freundlich: "Was ist, wenn sie sich scheiden lassen?"
"Sie werden sich bestimmt nicht scheiden lassen! Du weißt doch, wie gut sie zusammenhalten, oder etwa nicht? Die streiten sich nie!", rief Judith.
Christina sagte: "Ja, ich weiß. Aber die erste Liebe hält nicht immer."
Judith murmelte: "Hast recht. Das Leben ist voll kostbar. Ich werd's noch mal versuchen. Übrigens muss ich dir was sagen: Ich hab 'ne neue Freundin gefunden."
"Wen? Welche Freundin?", fragte Christina verwundert. Sie konnte nicht ahnen, wie sehr sie die Antwort freuen würde.
"Dich", erwiderte Judith. "Du hast mich schließlich vor dem Tod gerettet."
Christina grinste. Da war es wieder, dieses aufmunternde, lustige Grinsen. Das Grinsen, das auch die Straßenjungs aus dem Theater grinsten.
Die Nacht verging.
Den ganzen Vormittag verbrachten die WG-Bewohner damit, das Theaterstück zu beenden.
Hier ist eine kleine Zusammenfassung von dem, was im Theater passiert ist:
Nach Christinas Tod geschah folgendes: In ihrer Wut auf Estela hatte Madre Eva Tía Vanessa erzählt, dass sie nie das Ziel gehabt hatte, eine gute Mutter zu sein; im Gegenteil: Sie hatte sich sogar heimlich gefreut, als sie gehört hatte, dass Christina gestorben ist, und hatte nun auch keine Lust mehr auf Estela. Sie wollte sie sogar verjagen, doch das klappte nicht. Als Estela das gehört hatte, meinte sie, Eva, ihre eigene Mutter, sei es nicht wert, als eine Madre bezeichnet zu werden. Da wurde Madre Eva richtig wütend und jagte ihre Tochter Estela durch das Gebirge. Auf ihrer Flucht vor Madre Eva floh Estela in letzter Sekunde zu ihrem Geliebten Nek, der in einer Hütte in den Bergen hauste. Aus Angst vor dem gewaltsamen Bösewicht flüchteten die Schwestern Eva und Vanessa ins lodernde Feuer, das sich gerade von ihrem Haus in Richtung Wald ausbreitete.
Währenddessen hatte Tatiana sich mit der Hilfe der Geister Lenins, Stalins und Trotzkis schon bis zu Prinz Nándrytes feinem Schlafgemach vorgearbeitetet. Als sie mit ihrer blassen, brutalen Hand die Tür öffnete und mit wie immer finserer Miene ins Zimmer trat, erschrak der verwöhnte Prinz Nándryte so stark, dass er sofort in Ohnmacht fiel. Mit einem leisen, höhnischen Lachen ging Tatiana auf sein Bett zu und schnitt ihm die Kehle durch. Dann näherte sie sich unbehindert seiner Schatzkammer und warf sich, gefesselt vom Anblick der vielen Juwelen, ins Gold. Als sie sich vor Glück ausgetobt hatte, kniete sie sich vor die große Schatztruhe, blickte sie einen Moment noch ehrfürchtig an und dachte: Auch wenn ich es nicht schaffe, die Erde abzufackeln, mit diesem Reichtum werde ich trotzdem schon irgendwie zur Herrscherin der Welt. Somit öffnete sie langsam die Truhe. Doch als sie das blitzende Gold und die vielen Edelsteine darin erblickte, hielt sie sich die Hand vor die Augen und fiel wie betäubt auf die Truhe. Der Anblick der reinen Strahlen, die vom Gold ausgingen, zog in ihr die alte Erinnerung an ihre Kindheit hervor und riss ihre einzige Wunde auf, die sie immer zu verleugnen versucht hatte: Sie erlebte die schreckliche Szene aus ihrer Kindheit, die schon immer in ihrem Unterbewusstsein geschlummert hatte, ganz genau noch einmal: Ihr Vater Vladimir zupfte auf seiner Balalaika, ihre Mutter Natascha schüttete Zucker in ihren Tee. In diesem Moment spürte die noch sehr kleine Tatiana, dass ihre Mutter sie eines Tages sehr ärgern würde. Sie rief: "O Mutter Natascha, ich weiß, du trinkst noch deinen Tee, doch eines Tages werde ich ihn verschütten." Daraufhin jagte ihre Mutter die kleine Tatiana Zibirskaja aus dem Haus bis in den eiskalten Frost Sibiriens. Die kleine Tatiana heulte vor sich hin und fror. Aber sie war so erschöpft von der langen Verfolgungsjagd, dass sie einschlief. Und in dem Moment, in dem sie einschlief, begann ihr traumatischer Traum, der sie bei dem Anblick des Goldes hatte erzittern lassen: Sie lag in der Kälte im eisigen Schnee, vor ihr stand ein großes Gulag aus Gold, doch es war unerreichbar. Aufgeregte Stimmen drangen aus dem Gulag, doch sie verstummten, als der kleine starke Aloscha Vladimirowitsch Kuznetsov ins Gulag trat. Als er wieder heraustrat und stolz grinste, klebte an seinem Knüppel Blut und man sah seiner Pistole an, dass sie zum Einsatz gebracht worden war. Aus dem Gulag drangen nun weinende Stimmen. Doch dann stürzte das Gulag ein und die Gefangenen flohen. Ein paar erwischte Aloscha noch, dann hatten sie ihn überrannnt.
Tatiana klappte den Deckel der Truhe zu. "Ich will es nicht noch einmal erleben", murmelte sie. "Das, was ich gerade gesehen war, war der Kollaps... Der unvermeidliche Zusammenbruch... Der Zerfall der Sowjetunion. Und genauso, wie die Sowjetunion zerfiel, werde auch ich sterben." Und sie war tot. Keinen Tropfen Blut hatte sie vergossen, ihr Körper war einfach erschlafft.
Nach dem Theater wollten sich Stella und Nek erholen und fuhren zum Strand. Dort zog Stella ihren Bikini an und Nek seine Badehose.
"Wollen wir ein Picknick machen?", fragte Stella und hakte sich bei Nek unter.
"Nachdem wir uns ausgeruht haben", entgegnete Nek.
Am Horizont sahen sie die Silhouette einer kleinen, dicklichen Person mit langen, blonden Haaren, die direkt auf sie zuging. Es war Judith. Christina hatte ihr geraten, es mit anderen unverheirateten jungen Männern zu versuchen. Judith hatte sich für Nek entschieden.Und so ging sie auf ihn zu und nichts und niemand hielt sie auf.
Nek breitete die Picknickdecke aus.
Stella legte sich hin und döste ein bisschen.
Nek selbst
Judith blieb vor ihm stehen und schaute ihn an. Ihr Blick sah geradezu verliebt aus.
Nek schaute Judith auch an.
Judith wurde rot.
Nek wurde nicht rot. Doch man erkannte, dass er Judith in diesem Moment mehr mochte als Stella...
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