Kapitel 3: Paulas Albtraum
"Post für mich?", fragte Maria gut gelaunt. Sie öffnete das Paket.
Eva war auf ihre Reaktion sehr gespannt.
"Ah, die grüne Dreivierteljeans, die ich mir gewünscht habe! Sehr schön!", sagte Maria.
Eva lachte.
"Kommt", sagte Paula, "Maria, zieh dir deinen 'Woman'-Pullover und deine grüne Jeans an. Lasst uns in den Park gehen. Ich hab heute irgendwie total Bock."
"Gute Idee", fand Maria und zog sich schnell die grüne Jeans an.
Eva legte ein paar Sandwiches in eine Box. "Proviant", erklärte sie.
Im Park trafen sie Lina, Zarah, Julia und Julias Bruder Nandre.
Paula, Maria und Eva merkten sofort, dass Zarah und Nandre ineinander verliebt waren. Immer wieder warfen sie einander verstohlene Blicke zu und wurden rot oder lächelten sich gegenseitig an. Anscheinend hatte Nandre gar nicht richtig wahrgenommen, dass er auf dem Ball mit Runa getanzt hatte. Julia und Lina schien keineswegs zu stören, dass Nandre und Zarah verliebt waren. Sie fanden das offenbar völlig normal und ganz selbstverständlich. Julia hatte ja auch schon die Liebesbriefe gesehen, die sie sich geschrieben hatten. Paula dagegen ärgerte es schon, und zwar nicht gerade wenig. Sie war nämlich heimlich auch in Nandre verliebt...

Paula spähte arwöhnisch durch das Dickicht. Sie sah, die wie die beiden sich auf einer Bank im Schatten einer alten Eiche küssten.
"Wir werden ja sehen, ob er das in einem Monat immer noch ist", erwiderte Maria eher belustigt.
"Wer will Sandwiches?", rief Eva, die von dem Thema nichts wusste, über das sich Paula ärgerte.
Maria griff eifrig zu.
Paula hielt sich zurück und verschränkte die Arme. "Ich verstehe damit überhaupt keinen Spaß, Eva. Das ist nicht lustig", beschwerte sie sich. Ehe Eva etwas dagegen einwenden konnte, sagte Julia "Danke Eva" und nahm sich ein Sandwich.
Lina griff sich ebenfalls ein Sandwich und bedankte sich.
Als Eva meinte, es würde sich nicht noch jemand bedienen, schnappte sie sich selbst ein Sandwich. Die Gruppe trat den Heimweg an.
In ihrer WG angekommen, sagte Paula streng zu Eva: "Du musst aber auch echt immer im ungünstigsten Moment was verteilen, wirklich!"
Eva fragte: "Warum war der Moment denn so ungünstig? Was hab ich denn jetzt schon wieder angestellt, Paula? Echt, ich hab doch nix gemacht!"
"Letztes Jahr haben wir doch den Preis im Friedlichsein gewonnen, und jetzt fangt ihr mal wieder an zu streiten? Oh, oh!", gab Maria zu bedenken.
"Stimmt, aber trotzdem, Paula hat jetzt mal ganz ehrlich angefangen", protestierte Eva unschuldig. Ausnahmsweise war ihr das nicht peinlich.
"Wobei Eva doch die Sandwiches verteilt hat, das ist doch unfair", maulte Paula grimmig. Sie verließ die WG und klingelte bei Christina und Greta.
Greta war eine blonde Polin mit nettem Charakter, die gerne Rot trug und Christina war eine gechillte Spanierin mit dunkelbraunen Haaren, die ab und an aber auch ziemlich sauer werden konnte.
"Genau, dass war richtig nie fajnie von Tanja", ergänzte Greta über den Vorfall mit der berüchtigten rothaarigen Russin.
"Zu euch gehen wollte ich", erklärte Paula. "Ich hab mich nämlich in meiner WG mit Eva gestritten. Und noch was, könnt ihr mir nochmal die Geschichte mit diesen Gummibärchen erzählen? Ich find' sowas mit Diebstahl voll interessant."
"Okay", sagte Greta. "Ich hatte Gummibärchen in meiner Schublade - Gummibärchen, Teigtaschen und Bigos, ich meine Eintopf, sind halt meine Lieblingsspeisen. Ich ging malraus, frische Luft schnappen. Ist ja normal. Macht man ja manchmal. Plötzlich sah ich, wie Tanja bei Christina klingelte. Das fand ich verdächtig. Christina wurde grummelig und wollte Tanja nicht reinlassen." Greta machte Pause und griff nach einer Flasche mit Sprudel.
"Ja, was Greta sagt, stimmt. Ich fand das schon voll komisch, dass Tanja ausgerechnet bei mir klingelt. Das ist doch unnormal!", warf Christina ein.
Greta fuhr fort: "Schließlich ließ Christina Tanja doch herein. Tanja war zu ihr sonderbar freundlich; Christina zeigte ihr unsere WG. Als sie fertig war, fragte Tanja, was in der Schublade war. Christina sagte natürlich, dass der Inhalt der Schublade nicht besonders war, aber Tanja wollte es genau wissen. Christina sagte ihr, dass in der Schublade die Gummibärchen waren. Das stimmte ja auch. Was Tanja jedoch vorhatte oder worauf sie hinauswollte, war Christina unklar."
"Sie war also ziemlich ahnungslos", kommentierte Paula.
"Ja, richtig", erzählte Greta, "aber nervös war sie auch. Vor lauter Nervosität trank sie mehrere Flaschen Wasser aus. Das war leider nicht schlau, denn sie musste allmählich aufs Klo. Trotzdem wollte Christina Tanja nicht unbewacht allein lassen. Aber als sie sich fast in die Hose machte und Tanja noch nicht gegangen war, musste sie das Risiko natürlich eingehen. Als sie wieder von der Toilette zurückkam, war Tanja verschwunden. Und als ich wieder ins Haus kam, waren auch meine Gummibärchen weg."
"Aber natürlich. Willst du mit uns in der Innenstadt shoppen gehen? Ich hätte Lust, und Christina wahrscheinlich auch", erwiderte Greta.
"Gerne", sagte Paula.
Christina war auch einverstanden.
So fuhren sie mit der U-Bahn in die City.
"Gehen wir zu Deichmann? Ich brauche neue Schuhe", sagte Christina.
Paula und Greta nickten.
"Ich auch", antwortete Paula.
Eine halbe Stunde später kamen Paula, mit weißen Sportschuhen in der Hand, Christina, mit schwarzen Wanderschuhen im Rucksack und Greta, mit roten High Heels in der Tasche, aus dem Geschäft. Danach streunten sie erstmal ziellos umher, bis Paula den Wunsch äußerte, in einen Parfümladen zu gehen. Ihr geheimer Plan war es, ein möglichst betörendes Parfüm zu kaufen und Nandre damit später für sich zu gewinnen.
Die drei betraten den Laden.
Auf den Tischen, Regalen und Festerbänken standen Parfümproben. Weil viele Leute sich damit probeweise besprühten, duftete es im ganzen Raum nach Zimt, Rosen und anderen Blumen. Das genoss Paula vollkommen, doch plötzlich erschrak sie fürchterlich: An ein Regal gelehnt stand ein Liebenspaar: Ein langhaariger junger Mann mit buschigen Brauen, grünen Augen und einem langen, braunen Zopf und eine dunkelhäutige Frau mit bunten Rastas, die an einem Nelkenparfüm Interesse hatte. Nandre zusammen mit Zarah dort anzutreffen, brachte Paula zur absoluten Verzweiflung. Frustriert verließ sie den Douglas.
"Paula, wo willst du hin?", rief Christina und rannte zu ihr.
"Ich will hier raus, vielleicht zu Nordsee. Essen erfrischt!", grummelte Paula.
"In Ordnung", stimmte Greta zu.
Christina hatte offenbar ebenfalls nichts dagegen.
Also marschierten die drei zu Nordsee.
Paula bestellte sich ein ordentliches Brötchen mit paniertem Fisch und Salat (lecker!), Christina eine Schachtel Garnelen und Greta eine Tüte Fischnuggets.
Paula versuchte, Greta und Christina zu verheimlichen, dass sie eifersüchtig auf Zarah war. Sie bekam das aber nicht sehr gut hin. Sie war während dem Essen nämlich aufgeregt und gereizt und verriet sich so. Auch ihre plötzliche schlechte Laune war auffällig.
"Gehen wir heim?", fragte Greta schließlich und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.
"Lass uns doch noch mal zu Reserved gehen", schlug Christina vor.
Paula nickte widerwillig. Jetzt war ihr völlig egal, wohin sie gingen. Was dachte sich dieser Nandre eigentlich dabei, sich einfach so die ganze Zeit mit Zarah blicken zu lassen? Dachte er gar nicht and die anderen? Anscheinend nicht! Aber Paula gab nicht auf.
"Ich kaufe dieses weiße T-Shirt", sagte Greta.
"Ich finde diesen blauen Jeansrock cool", erklärte Christina.
"Ich nehm' diesen grauen Hoodie", maulte Paula miesepetrig.
Die drei stellten sich in der Schlange bei der Kasse an. Sie kauften die Sachen, die sie sich ausgesucht hatten.
"Lasst uns nach Hause gehen", meinte Christina.
Sie fuhren mit der U-Bahn wieder zurück.
Greta machte das Abendbrot. Sie aßen es und putzten sich die Zähne.
Paula bekam eine Ersatzmatratze und dann legten sich alle schlafen.
Greta schlummerte sofort ein und schnarchte ab und zu ein bisschen (was Paula aber nicht bemerkte, weil sie in einem anderen Zimmer schlief).
Christina rekelte sich auf ihrem Bett und konnte wie so oft nicht einschlafen. Das war bei ihr immer so.
Wann Paula einschlief, wusste man nicht. Jedenfalls träumte sie einen verwirrenden Traum. Sie träumte, dass sie zu einem großen, teuren Reserved-Zentrum ging, dort Nandre ohnmächtig, gefesselt und geknebelt unter einem zwanzig Meter hohen Tannenbaum lag und Zarah ihr mit hochrotem Kopf folgte und sie grundlos beschuldigte, Nandre niedergeschlagen zu haben. Außerdem träumte sie, dass sie selbst schnurstracks auf die Kassiererin, die Tanja war, zulief und sie fragte, ob es noch Brautkleider gebe. Tanja sagte in Paulas Traum, dass es bei Reserved noch nie Brautkleider gegeben hätte (was auch stimmte), aber dafür einen reichen Gummibärchen-Prinzen namens Nandre, den man, um ihn heiraten zu können, retten müsse...
Doch da klingelte der Wecker und sie wachte auf. Das war ihr sehr recht, denn der Traum war nicht sehr angenehm gewesen.
Christina kam in ihr Zimmer und fragte: "Na, Paula, hast du gut geschlafen?"
"Na ja, geht so", sagte Paula schlaftrunken.
Am Nachmittag verabschiedete sie sich von Greta und Christina. Eiligen Schrittes lief Paula zurück zu ihrer WG. Maria und Eva standen auf der Türschwelle und machten ihr die Tür auf. Paula fand, dass das sehr süß war. (Sie hätte die Tür auch getrost selbst aufmachen können, dazu fehlte ihr nicht gerade die Energie.)Wie oft sie sich auch mit Eva stritt, sie würde sich immer wieder mit ihr vertragen.
Paula seufzte und hielt Eva die Hand hin.
Eva kicherte und wurde rot. Ganz offenbar war ihr das sehr peinlich. Ihr war nämlich immer alles peinlich, auch wenn es gar nicht peinlich war. Trotzdem schüttelte sie Paulas Hand.
Maria klopfte erst Eva, dann Paula zufrieden auf die Schulter. Es war wichtig, dass sie zusammenhielten.
Anne
und Carla knieten an Charlottes Bett und beobachteten betrübt eine
ohnmächtige, schwangere Charlotte, die von einem Gerät beatmet wurde.
"Die arme Charlotte", sagte Anne, "sie hat es wirklich nicht leicht."
Carla
streichelte nachdenklich einen Schlauch, der zum Beatmungsgerät führte.
Sie wusste selbst nicht, wofür er gut war, aber sie mochte ihn
irgendwie. "Ich frage mich allen Ernstes, wann Vera endlich aufhören
wird, Charlotte ständig über den Weg zu laufen und dann angeblich rein
zufällig Streit anzufangen."
Greta und Christina setzten sich auf das Sofa.
"Und, wie fandst du den Besuch von Paula?", fragte Christina.
"Ganz gut... und du?" Greta schlug das eine Bein über das andere und sah Christina gespannt an.
Christina sagte:"Ja, auch gut." Sie stand auf und ging zum Terminkalender. "Oh!", sagte sie plötzlich. "Heute ist dein Treffen mit Robert!"
Greta stand ebenfalls auf und ging zum Kalender. "Stimmt!"
"Was werdet ihr machen?", fragte Christina fröhlich.
Greta zuckte die Schultern. "Ich weiß nicht." Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und tippte diese Nachricht an Robert:
Hi Robert.
Hast du eine Idee, was wir beim Date machen können?
Viele Grüße
Greta💘💓
Christina warf einen Blick auf die Nachricht.
"Aha, ein Date!", sagte sie.
"Ja, ein Date", sagte Greta.
Plötzlich piepte ihr Handy. Greta entdeckte folgende Nachricht:
hi; Greta.
wir Konenn, eißesen.
vile grüse.
robert.
Greta kicherte. "Robert macht immer noch Schreibfehler", sagte sie.
Christina nahm ihr das Handy aus der Hand und las die Nachricht. "Erstens", sagte sie, "nach dem 'Hi' kommt kein Semikolon. Zweitens: Satzanfänge schreibt man immer groß. Drittens: Nach dem 'können' kommt kein Komma. Viertens: Nach dem 'Viele Grüße' kommt kein Punkt. Fünftens: Nach dem 'Robert' auch."
Greta nickte und zog ihre Schuhe an. "Tschüss!" Sie verließ das Haus und machte sich auf den Weg zu Robert.
Christina schloss die Tür. Dann ging sie zum Fenster und versuchte, Greta auf der Straße zu entdecken. Ah! Da war sie ja! Die Halbpolin mit dem blonden Pferdeschwanz, den roten Stöckelschuhen und dem weißen Kleid.
Es war ein kurzer und nicht sehr ereignisreicher Tag gewesen. Als Christina sich die Zähne putzte, nachdem sie ihr Abendbrot gegessen hatte, hatte sie das Gefühl, dass sie an diesem Tag eigentlich hätte noch mehr erreichen können. Aber sie hatte ja noch viel Zeit, um viel zu tun. Schließlich würde sie noch lange leben... Jedenfalls dachte sie das...
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