Kapitel 6: Für immer verloren

Am Abend lagen Nandre und Zarah noch lange auf dem Sofa und beobachteten durch das Fenster den Sonnenuntergang. Nandres Haus war wie dafür gemacht.
Plötzlich unterbrach ein lautes Klingeln ihre glückseligen Momente.
"Herein", rief Nandre verträumt.
Niemand betrat das Haus.
"Ach so, ja, wir müssen ja die Tür aufmachen", sagte Zarah, ging lustlos und schwerfällig zur Tür und öffnete sie.
Paula kam herein. Als sie Nandre sah, errötete sie sofort und stammelte: "Danke. Ähm, also... ich... also... Ich hab meine WG nicht gefunden..." Sie drehte sich ein wenig weg und machte eine Pause, indem sie einen Ton hervorbrachte, der sich wie eine Mischung aus weinen und kichern anhörte.

Sie fuhr mit einem Ton in der Stimme, der sich anhörte, als würde sie lügen, fort: "Ja, und... äh... dann,... Na ja, dann, ... öh... fand ich euer Haus... Hihi... hehe... Ahm, kann ich vielleicht... theoretisch... bei euch... äh... ganz kurz... ahahä... überna... na-nachten?"
Nandre und Zarah nickten kurz und widerwillig, zeigten auf das Sofa und gingen in ihr eigenes Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen stand Paula zeitig auf, zog sich schnell an und machte sich schleunigst auf den Heimweg. Als sie bei ihrer WG ankam, rannte Eva ihr schon endgegen. "Paula", rief sie, "ich hab mich endschieden, wie ich finde, das du geflunkert hast und ihnen im Busch gefolgt bist! Ich finde das gar nicht gut und ultra verrückt und wenn ich das gemacht hätte würde ich's auch voll peinlich finden."

"Ich weiß, ich weiß, und ich kann's nachvollziehen. Ich seh's ja selbst ein! Außerdem gefallen mir zwei Sachen an Nandre nicht. Die erste Sache ist, dass er längere Haare hat als ich. Die zweite Sache ist, dass er mich so fies angemotzt hat, als ich im Busch war", sagte Paula.

Nandre und Zarah machten sich zurzeit auf den Weg zu dem Restaurant.
Der grimmige Kellner hatte allerdings seinem Bruder über die beiden bescheidgegeben.
Sein Bruder wollte sich an Nandre und Zarah rächen.
"Was darf's sein?", fragte er sie und verbeugte sich.
"Wir überlegen noch", erwiderte  Zarah. Der Bruder des Kellners schaute sich um. Nandre und Zarah waren die einzigen Kunden, die er sehen konnte. Er dachte sich: Gut, keine Zeugen. Dann holte er zwei Speisekarten. Die eine davon war normal. Sie gab er unauffällig Zarah. Mit der anderen handelte er. Es war eine schwere, große Speisekarte. Mit ihr schlug er Nandre auf den Kopf, hielt ihm mit der Hand den Mund zu und flüchtete mit ihm in einen dunklen Korridor. Er öffnete eine unscheinbare Tür im Gang und warf Nandre dort hinein. Dann holte er sein Handy aus der Hosentasche und rief seinen Bruder an. "Ich hab alles erledigt. Die beiden sind jetzt so gut wie getrennt", sagte er.
Die Stimme aus dem Handy erwiderte: "Super. Dann kannst du jetzt abhauen. Nicht, dass du noch erwischt wirst."

Ein Mann mit hellbraunen, kurzen Haaren und blauen Augen musterte Nandre. Er war ebenfalls in der Kammer eingesperrt worden. "Sie haben also noch so einen eingesperrt", murmelte er. "Ich kann mir gut vorstellen, dass ihm was ähnliches passiert ist wie mir und Stelli", fügte er hinzu. Daraufhin grub der unbekannte Mann ein Loch. "Ich werde versuchen", sagte er, "die bewegliche Steinplatte zu finden, von der mir die bösen bärtigen Kellner netterweise erzählt haben."
Bald darauf entdeckte er die Steinplatte und bewegte sie. Dann kroch er ins Freie.

Stella, Marie und Franziska gingen in der Stadt einkaufen. Franziska hatte ein schwarzes T-Shirt mit einem zwinkernden gelben Smiley gekauft.
Marie hatte eine türkise Ledertasche gekauft.
Stella hatte nichts gekauft und war sehr schweigsam.
Marie erzählte ihr von ihrer Südafrika-Reise und Franziska versuchte vergeblich, sie mit Witzen aufzuheitern.

"Womit telefoniert ein Huhn?", fragte sie zum Beispiel, als sie schon fast eine Stunde herumgelaufen waren.
Stella wusste die Antwort nicht und zuckte mit den Achseln.
"Soll ich dir die Antwort sagen?", fragte Franziska.
"Wie du willst", antwortete Stella leise.
"Ja oder nein?", wollte Franziska wissen.
"Ja", sagte Stella kaum hörbar.
"Ja?", fragte Franziska laut.
Stella nickte stumm.
Franziska sah das nicht. "Ja?", fragte sie nochmal.
"Hm-mm", murmelte Stella so leise, dass Franziska sie kaum verstehen konnte.
"Na gut. Mit einem 'Ei-Phone'. Verstehst du?", erklärte Franziska genervt.
Wieder nickte Stella.
Boah, dachte Franziska, echt nervig, dieses ständige Nicken. Sie verdrehte die Augen.
Stella sah das und kicherte gekünstelt. "Hihi. Super lustig", murmelte sie.
Franziska hielt es nicht mehr aus und drehte sich beleidigt zu Marie. "Marie", fragte sie, "hast du noch mehr Südafrika-Storys?"
"Ja", erwiderte Marie. "Jede Menge."
"Stella, hörst du auch zu?", fragte Franziska Stella.
Stella nickte.
"Hör mal auf mit deinem lästigen Nicken! Ich halt' das nicht länger aus!", stöhnte Franziska.
Marie räusperte sich. "Also... Oh! Hinter uns keucht irgendwer. Ach so, ich hör' schnelle Schritte, dann ist das bestimmt ein überanstrengter Jogger. Aber schauen wir mal lieber troztdem nach...", sagte sie.
Kaum hatten sich die drei umgedreht, da nahm Stella wieder ihren alten Charakter an. Denn der Mann mit den hellbraunen kurzen Haaren kam  schwer atmend auf sie zu gerannt und rief: "Stellaaa! Hi Stellaaa!"
Da breitete Stella die Arme aus und schrie: "Neeek!"
Marie schmunzelte. "Da haben wir's", sagte sie.
"Wurde aber auch Zeit. Ich hab schon die Nase voll von der ganzen Schweigsamkeit", maulte Franziska.

Zarah starrte unglaubwürdig in die Richtung, in der der Bruder des Kellners mit  Nandre verschwunden war. "Nandre? Nandre?", fragte sie verzweifelt und merkte, wie heiße Tränen in ihre Augen traten. Niemand war da, den sie hätte fragen können. Das Restaurant war menschenleer. Und totenstill.

Die Tränen, die in Zarahs Augen gestiegen waren, kullerten ihre Wangen hinunter. "Mein Nandre. Für immer verloren", schluchzte sie. Doch dann fragte sie ins nichts: "Für immer? Verloren? Warum denn überhaupt?" 
Mit diesen Worten zog Zarah den Vorhang, hinter dem ihr Geliebter verschwunden war, zur Seite, und stieg vorsichtig die Treppenstufen, die zum Korridor führten, hinab. Sie lief mit schnellen, ängstlichen Schritten durch den Gang und entdeckte die unscheinbare Tür zur engen Kammer, in der Nandre eingesperrt war. Diese war nur angelehnt, was Nek nicht bemerkt hatte, da er zu sehr mit der beweglichen Steinplatte beschäftigt war.
Zarah öffnete die Tür und betrat die Kammer. Dort sah sie Nandre bewusstlos auf dem Boden liegen.

"Oh mein Gott! Nandre, wach auf!", kreischte sie.
Da wachte Nandre auf. "Äh... Zarah?", fragte er verwirrt und rappelte sich auf.
"Lass uns nach Hause gehen. Irgendwie hab ich ein bisschen Angst", sagte Zarah.
Gemeinsam krochen sie durch den Ausgang, den Nek gegraben hatte. Mit dem Gedanken, ihr Abenteuer zu erzählen, gingen sie zu den WGs. Doch daran konnten die beiden erstmal nicht denken, da die WG-Bewohner bei einer offenbar sehr wichtigen Besprechung waren.

Marlen zwinkerte Greta verschwörerisch zu. "Jetzt könntest du's sagen", flüsterte sie.
"Wir spielen polnische Schwestern", sagte Greta laut, damit auch alle es hören konnten.

"Ich spiele euren kleinen Bruder, okay?", fragte Marie. Sie, Stella und Franziska waren (natürlich mit Nek) zurückgekommen und nahmen an der Besprechung teil.
Greta nickte freundlich. "In Ordnung", sagte sie.
Tanja sagte: "Ich spiele eine sehr skrupellose und brutale Frau, die aus Russland kommt. Das ist allerdings sehr logisch, weil ich daher wirklich komme." Sie lachte laut.
"Heißt du dann in dem Theater Tatiana, was auch sehr logisch ist, weil du so auch in echt heißt?", fragte Isabella.
"Ja. Und du spielst die kasachische Magd?", kam es zurück.
"Jupp", erwiderte Isabella.
"Ich spiele auch eine Magd", sagte Runa. "Aber 'ne deutsche. Ist ja klar."
"Ich spiele die filigrane Prinzessin. Und fragil bin ich dann auch", sagte Lia, die inzwischen mit Krücken gehen konnte.
"Ich spiele dann auch 'ne fragile Prinzessin", sagte Carlotte,"die aber nicht nur fragil und filigran ist, sondern auch schwanger und grazil."
"Wir sind deine Dienerinnen", sagten Carla und Anne wie aus einem Mund.
Evita, Meti und Judith wollten Lias Dienerinnen spielen.
"Stella und ich spielen die Spanier, und Stella eine, die in den Bösewicht Nek verliebt ist, und er ist auch in sie", meldete sich Christina zu Wort.
Stella und Nek nickten zustimmend.
"Ich spiele dann den Prinzen Nándryte aus einem fernen Land", sagte Nandre.
"Ich spiele eine Magd. Sowie Runa und Isabella auch", erklärte Julia.
"Und sowie ich", ergänzte Zarah.
"Ich spiel' Zarahs Schwester", seufzte Jenny.
Paula sagte: "Franzi, Maria und ich spielen Jungs. Ich heiß' dann Paul und Maria Marius. Und Franzi spielt einen, der heißt Franz." Sie lachte.
"Eva und ich spielen Tante und Mutter von Christina und Stella", sagte Vanessa. "Aber Stella heißt im Theater Estela. Das ist die spanische Version von Stella."
Eva nickte.
Lina und Vera sagten: "Wir spielen Zwillinge."
"Kann ich vielleicht eine Waise spielen, die bei euch lebt?", fragte Lisa.
"Klaro", antwortete Lina.
Jeden Tag übten sie zwei Stunden für ihr Theater. Am sechsundzwanzigsten Juni um zehn Uhr dreißig war es so weit. Die WG-Bewohner hatten viel Publikum. Und sie hatten es sich auch verdient.

 *  *  *

Es klingelte. Christina setzte sich ihr schwarz-weiß kariertes Beret auf, eilte zur Tür und machte sie auf. "¡Hola tía Vanessa!", rief sie.
"¡Hola chicas españolas!", sagte eine Frau in einem Mantel, einem Schal und hochstöckligen, schwarzen Samtstiefeln...


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kapitel 17: Jennys Wunsch

Kapitel 10: The power of now

Kapitel 1: Theaterstück und Kakao