Kapitel 8: Ich hab keine Pubertät!
Als
Estela den Kopf jedoch nur noch weiter senkte, eine Träne über ihre
Wange rann und sie schließlich einen lauten Schluchzer von sich gab,
sagte Vanessa schnell: "Äh, wenigstens sind wir gerettet. Und Christina vielleicht ja auch. Wer weiß."
Doch Estela jammerte traurig: "Aber vielleicht auch nicht! Vielleicht auch nicht, tía! Du darfst nicht immer alles positiv sehen! Vielleicht... verbrennt Christina gerade! Oder... fällt von einer Klippe runter! Was weiß ich!"
Als Estela wieder aufstand, sahen Eva und Vanessa, dass sie eine große Pfütze geweint hatte.
"Ach
Estela", sagte Eva. "Du Arme, ich kann dich ja gar nicht ansehen, wie
du dir mit dem Zipfel deines Flamencokleids die Tränen aus den Augen
wischst. Oh! Du bist ja richtig traurig! Das darf aber gar nicht sein,
sonst ist deine Mami total enttäuscht. Spaß, so ganz schlimm find' ich
es ja nun wieder auch nicht, aber ich finde es auch überhaupt nicht gut.
Vorher warst du nämlich noch viel schöner. Komm, hör auf zu winseln,
werde wieder normal, glaub an das Gute, glaub an Gott, glaub, dass wenn
Christina überhaupt stirbt, was sehr unwarscheinlich ist, dass sie also
wenn sie stirbt, sie in den Himmel kommt."
Eva
lächelte. Estela erkannte längst, das dieses Lächeln gekünstelt war.
Doch das machte ihr nichts aus, da es ungefähr das einzige Lächeln war,
das Eva ihr überhaupt schenkte.
Eva streichelte Estela mit dem kleinen Finger. Vor allem am Rücken war das sehr kitzelig.
Estela
schüttelte sich energisch. Daraufhin rief sie verzweifelt: "Mutter!
Nnggh! Hör auf, mich zu kitzeln und zu sagen das ich viel schöner war
als ich nicht geweint hab und bla und blaa und blablabla und vor allem
das Christina bestimmt nicht sterben wird! Sie wird sterben, wie jeder
andere Mensch, der in einem brennenden Haus sitzt und nicht mehr raus
kann, weil es schon zu spät ist und das Feuer einen eh gleich erreichen
wird! Außerdem wird sie auch nicht unbedingt in den Himmel kommen, wenn
sie stirbt, was sehr warscheinlich ist! Gott ist bestimmt nicht
entgangen, dass Christina ihrem netten Onkel mit sieben Jahren einen
Korb voll reifer Orangen aus seinem Garten geklaut hat und vergessen
hat, sich zu entschuldigen. Oder dass sie sich einmal verirrt hat und
dann und wie ein Straßenjunge mit dreckigen Hunden durch die Straßen
gezogen ist und bei jedem Haus angeklopft hat und um eine Wurst gebeten
hat und sich die Wurst dann mit den Hunden teilte. Oder wie sie einen
Lachs gegessen hat und an den Greten fast erstickt ist und deshalb
ausgeflippt ist! Oder wie sie mit acht Jahren einen wunderschönen Rubin
aus einem Museum stahl und ganz plötzlich weglief, weil die Polizisten
kamen und sie jagten, und als sie sie eingeholt hatten, sie ihnen mit
Freude Beine stellte und schließlich im Gerichtssaal landete, wo der
Richter sie anklagte und sagte, so ein unartiges Kind gehöre in den
dunkelsten Kerker, doch sie gab Widerworte und protestierte bis ihr die
Tränen kamen und sie so bitterlich weinte, dass der Anblick zu grausam
war um sie bei Wasser und Brot ins Gefängnis zu werfen. Oder wie sie
nicht kam, als du, Madre, zum Essen riefst, weil sie noch mit den
Straßenjungs spielte, und du dir riesige Sorgen um sie machtest und sie
am nächsten Morgen, die Kleider zerrissen, die Augen vor Müdigkeit nur
noch einen Spalt breit offen, hereingeschlürft kam und sofort auf dem
Boden einschlief und eine Meute nüchterner Jungs neugierig durchs
Schlüsselloch linste und rief: 'Christina, morgen spielen wir wieder
zusammen, okay?' Wird sie wirklich in den Himmel kommen?"
Estela sah ihrer Mutter mit einem Blick, der Trauer und Hoffnungslosigkeit ausdrückte, in die Augen.
Doch Eva wich ihrem Blick aus, indem sie ihre Augen verdrehte, und seufzte genervt.
"¡Madre!", rief Estela."Hilf mir, statt mich nervig zu finden! Hab Mitleid mit deinen Kindern! Du bist die Mutter! Erkenne endlich, dass wir Christina retten müssen! Rausholen! Verstehe! Erkenne! Begreife!" Sie schlug ihre heißen Hände vors Gesicht und begann wieder zu weinen.
"Och Estela! Übertreib nicht so. In deinem Alter macht man so was nicht mehr. Es sei denn... Ja, ich glaube wirklich, du hast Pubertät!", konterte Eva streng.
"Hab ich nicht, hab ich nicht, und werde ich auch nie haben!", schrie Estela. "Es stimmt nicht, dass kleine Kinder Pubertät haben! Die Pubertät ist eine Phase von Jugendlichen, in der sie erwachsene, selbstständige Menschen werden wollen! Doch die Eltern wollen sich nicht umgewöhnen und behandeln die Jugendlichen immernoch wie kleine Kinder! Deshalb grummeln die Jugendlichen dann immer und sperren sich in ihre Zimmer ein! Ich hab keine Pubertät!" Estelas Tränen flogen in alle Richtungen.
"¡Estela! Beherrsche dich!", schrie Eva und ballte ihre Faust. Doch als sie nach Estela schlagen wollte, lief diese heulend davon.
"So verrückt sind die Kinder von heute, hermana!", zischte Eva und sah Estela mit kritischem Blick hinterher.
"Komm her, sobrina", sang Vanessa.
"Nein! Ich weiß, dass Mutter dich dreist angestiftet hat!", schluchzte Estela und rannte weiter.
"Jetzt reicht es aber, Estela!", rief Eva und rannte ihrer Tochter mit vor Wut hochrotem Kopf hinterher.
Eine wilde Verfolgungsjagd in den Bergen begann.
Christina kauerte ängstlich in einer Ecke und ließ alle Flaschen im Haus auslaufen. "Hauptsache, nach meinem Tod wird man noch etwas von mir finden", murmelte sie und kritzelte hastig in ein Buch mit leeren Seiten. Es war ihr Tagebuch. Das Feuer war schon durchs Fenster geeilt und erreichte sie bald. Doch bevor es sie entgültig verbrannte, umzingelte es sie. Christina schrieb noch folgende Wörter in ihr Tagebuch:
Es ist aus. Christina
Vier Tränen landeten auf der Seite. Christina warf ihr Buch in weitem Bogen durchs Fenster. Dann verbrannte sie. (In Wirklichkeit, denn sie starb ja nur im Theater, machte sie eine Klappe auf und kroch durch einen unterirdischen Gang direkt in ihre WG).
"Kennst du auch diesen Prinzen Nándryte, Bella?", fragte die Magd Runa ihre kasachische Freundin Bella. Mit Nachnamen hieß diese Isi.
"Hab ich schon mal irgendwo gehört. Weiß nicht, woher", erwiderte Bella und packte etwas in ihren Korb.
"Und du, Julia?", fragte Runa.
"Natürlich kenne ich den Prinzen Nandryte. Er ist mein Bruder!", kam es von Julia zurück.
"Und wieso ist er ein Prinz und du eine Magd?", wollte Runa wissen.
Julia erklärte: "Weil er einmal mit mir und meinen Eltern durch den Wald spazierte. Er ging voran. Da waren wir übrigens erst zehn Jahre alt. Plötzlich sah er eine magische Schatztruhe, die leuchtete. Außerdem hüpfte sie. Nándryte wollte sie öffnen, doch er wurde in sie hineingesogen. Zum Glück guckte sein Kopf noch raus. Erstaunt sahen wir zu, wie die Schatztruhe mit Nándryte davonflog und vor einem fremden Königspaar landete. Das Königspaar dachte, er wäre ein Waisenkind und nahm ihn auf. Sie waren so weit von uns entfernt, dass wir sie nicht mehr einholen konnten."
Tatiana Anastasia Ekaterina Olga Natascha Ksenia Jelena Mascha Valeria Zibirskaja näherte sich ohne aufgehalten zu werden ihrem Ziel: Einem riesigen Labyrinth aus perfekten gerade geschnittenen Hecken, in dessen Mitte sich das prunkvolle Schloss des Prinzen Nándryte befand. Es war weiß und gänzlich aus schimmerndem Marmor. Das Dach bestand aus wertvollen Rubinen, Smaragden, Opalen, Diamanten und Saphiren.
Tatiana rief: "Geist Lenins, Geist Stalins, Geister aller verstorbenen Führer unseres Volkes, macht mir das Labyrinth so, dass ich es ohne mich zu verirren durchschreiten kann!" Und sie konnte den Weg zum Schloss von Prinz Nándryte finden, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu verirren...
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