Kapitel 9: Hotel, Pool, Palmen, Bahamas

"Goldenes Gulag, warte", wisperte Tatiana. "Goldenes Gulag, warte. Deine Zeit wird kommen." Sie schloss die Augen und ihr erschien ein Bild. Sie sah, wie sie als kleines Kind im Schnee mitten in den undurchdringlichen Tiefen Sibiriens saß und fror und weinte und dass vor ihr ein großes goldenes Gulag stand, wo ein kindlicher Wächter namens Aloscha Wladimirowitsch Kuznetsov wachte und laut schimpfte, wenn einer der Gefangenen im Gulag einen Fluchtversuch machte.
Etwas verwirrt machte Tatiana die Augen auf und schüttelte sich. "Dieses böse Bild! Muss es mich denn unbedingt an den schrecklichen Moment erinnern, wo ich von diesem Gulag aus Gold träumte, wo solche polnischen Anti-Sowjets drinsaßen, und der kleine starke Aloscha versuchte, sie zu verprügeln? Einfach grausam!", murmelte sie.
Dann blieb sie vor dem hölzernen Tor zu Prinz Nándrytes Haus stehen und hob den Arm. Sie rief: "Geist Lenins, Geist Stalins, Geister aller verstorbenen Führer unseres Volkes, macht mir das Tor so, dass ich hindurchgehen kann!"
Doch die Geister gehorchten nicht mehr.
Tatiana wollte es nochmal versuchen, da fiel eine eine Fackel mit silbernem Feuer vom Himmel. Tatiana brannte ein Loch in das Tor und stieg hindurch. Die Fackel ließ sie zurück. Das Feuer wurde zu flüssigem Metall und floss das Tor hinunter.

"Es nützt nichts, Estela hinterherzujagen", sagte Eva keuchend. "Das bringt mich nur aus der Puste. Soll das dumme Kind doch lernen, vernünftig zu sein und zurück zu kommen und sich entschuldigen. Ich brauche mich jedenfalls nicht bei ihr zu entschuldigen."
Vanessa nickte.

                                              ***

Plötzlich begann ein Junge im Publikum zu schreien. "Wäääh!", kreischte er. "Mamiii! Wahuhahäää! Wahäää! Ich will nach Hause! Wäääh!"
Seine Mutter stopfte ihm genervt seinen Schnuller in den Mund und zischte: "Sei still, Ben! Pschh! Hier sind auch andere Leute!"
Eva sah erschrocken auf ihre Uhr. "Oh!", sagte sie und stellte fest, dass sie schon zwei Minuten zu lange weitergespielt hatten. Schnell fuhr sie fort: "Äh, meine Damen und Herren, der erste Teil ist vorbei. Übermorgen geht es weiter. Öh... Vielen Dank für ihren Besuch! Wir freuen uns, wenn sie übermorgen wieder kommen können. Wir wünschen ihnen einen angenehmen Tag und heißen sie immer herzlich willkommen. Auf Wiedersehen!" Hastig rannte sie von der Bühne.
Das Publikum applaudierte, doch ein Mann in der obersten Reihe sagte: "Wurde aber auch Zeit!" Er war... der grimmige Kellner.
Eine etwas ältere Dame neben ihm räusperte sich.
Eva stürmte auf Paula und Maria zu. "Mann, war mir das grad peinlich! Ich bin knallrot geworden unter meiner Schminke!", rief sie.
"Ich hab auch echt nichts anderes erwartet. Dir ist einfach immer alles peinlich", endgegnete Paula.
Eva drehte sich beleidigt zu Maria. "Nicht immer."
Paula verdrehte die Augen. "Aber gefühlt", sagte sie genervt.

Charlotte tätschelte ihren Bauch.
"Wann wird dein Baby denn geboren?", fragte Anne.
"Am achten neunten", erwiderte Charlotte.
"Also in zwei Monaten", sagte Carla.
Charlotte nickte.
Die Schauspielerinnen und Nandre zogen sich um.
Als Charlotte gefolgt von Carla und Anne wieder aus ihrer WG herauskam, sagte eine Stimme hinter ihr: "Charlotte, können wir..."
Charlotte erschrak sofort. "Du hast mich aber erschreckt! Wer bist du?", kreischte sie.
"Vera", war die Antwort.
Charlotte fasste sich an den Kopf und rief: "Ach nein!" Sie streckte den Arm nach einer helfenden Hand aus.
Sofort griff Carla nach ihrer Hand.
Anne befürchtete, dass Charlotte umkippen könnte, und stützte sie.

"Aber Charlotte", sagte Vera ärgerlich. "Ich will dir doch gar nichts tun. Ich will mich nur mit dir vertragen."
"Na schön!", seufzte Charlotte und reichte Vera widerwillig ihre Hand.
"Endschuldige. Oder halt eben 'gung", sagte Vera.
"Ich vergeb' dir ja schon längst!" Charlotte verdrehte die Augen.
Anne klatschte in die Hände. "Nochmal!", rief sie. "Aber diesmal ehrlich, klar?"
"War's ja", kam es von Vera.
"Dann ist ja gut", sagte Anne.
Der Tag neigte sich seinem Ende zu.

Der Wecker dröhnte.
Jenny stand auf und zog sich an. Dann bereitete sie still das Frühstück zu.
Runa und Lia schliefen noch.
Jenny machte sich auf den Weg zur Stadt. Dort wollte sie eine Leinwand und eine Staffelei kaufen.
Als sie gekauft hatte, was sie kaufen wollte, fuhr sie mit der U-Bahn wieder zurück. In ihrer WG angekommen fing sie an, auf der Leinwand ein Bild zu malen.
Und zwar ein Bild von ihrem Traum.
Und ihrem größten Wunsch.
Einem Hotel auf den Bahamas.
Mit einem Pool.
Und Palmen.
Und Runa.
Und ihrem Tanzpartner.
Und Lia nicht.

Eine Stunde verging. Dann stand Runa auf und rief: "Jenny! Jennylein! Wo steckst du?"
"Hier", murmelte Jenny verträumt.
A
ls Runa sah, was Jenny machte, rief sie erstaunt: "Wow! Ist das 'ne Kunst! Boah, so was hätt' ich dir überhaupt nicht zugetraut! Ja, ja, ich kann dich echt Meisterkünstlerin nennen! Unfassbar! Einfach total unglaublich! Gar nicht schlecht, Jenny. Schon was."
Jenny malte weiter.
Runa drehte sich ihren großen, runden, goldenen Ohrring ins Ohr und tickte Lia so lange an, bis diese aufwachte."Lia! Schnell! Aufwachen! Guck dir mal an, was Jenny alles kann!"
"Hmm? Was? Wie?", fragte Lia und blinzelte verschlafen.
Runa rief: "Lia! Schau doch! Jenny malt ganz viele, tolle Meisterwerke!" Offenbar war sie ein begeisterter Jenny-Fan.
Lia maulte: "Ach so. Ja, ja. Kann ich leider nicht." Man merkte, dass sie kein Jenny-Fan war. Denn
sie klang verbittert und pessimistisch. Dass sie kein Jenny-Fan war, lag daran, dass sie neidisch war.


Lia verdrehte sogar die Augen und wechselte das Thema! Sie sagte: "Ich geh mal Brötchen kaufen."
"Tust du nicht! Ich hab das Frühstück schon gemacht!" Jenny rückte beleidigt näher an ihre Leinwand.
"Nie klappt was", wimmerte Lia.
"Jetzt sei doch nicht sofort sauer!" Jenny verdrehte verärgert die Augen.
"Bin ich gar nicht." Lia warf Jenny einen bösen Blick zu.
"Bist du schon!"
"Jetzt bin ich sauer, weil du immer so doof bist und mich provuzierst!"
"Pfff!"
"Mach das nicht."
"Pfff!"
"Sag das nicht."
"Soll ich etwa sagen, dass deine Kette schön ist? Wär' dir so ein Kleinkinderkram vielleicht lieb?" Jenny streckte Lia wütend die Zunge heraus.
"Ich muss jetzt täglich sagen, dass du gemein bist, Jenny!"
"Du hältst mich vom malen ab!"
"Mir doch egal."
"Du nervst, Lia!"
"Nö."
"Doch!"
"Nö! Aber du. Im Ernst."
"Klar! Und jetzt willst du sagen: 'Und zwar so richtig!', ne? Darfst du aber nicht! Hihi!"
"Darf ich wohl."
"Übrigens, du verbietest mir nicht, zu sagen: 'Ich hab gewonnen, ich hab gewonnen...'"
"Nänänänänä."
"'Selber, selber', lachen alle Kälber..."
"Stopp! Ich will nicht, dass du noch das mit dem Hühnerhof und dass ich doof bin sagst."
Lia und Jenny stritten immer weiter.
Schließlich kam Runa, der rettende Engel. Sie breitete die Arme aus und sagte ernst: "Also echt, langsam kann ich euch wirklich gar nicht mehr anhören! Ihr motzt euch ja so fies an, ey! Am Ende ist eins doch immer klar: Lia kommen die Tränen und sie heult sich stundenlang bei mir aus, während Jenny richtig frustriert ist und denkt, ich wär' auf ihrer Seite!"
Lia nahm schuldbewusst ihre Krücken und humpelte in den Garten. Sie wollte ein wenig frische Luft schnappen und ihren Kopf durchlüften. Gerade als sie merkte, dass ihre Veilchen dringend gegossen werden mussten, und ins Gartenhäuschen rennen wollte, um die Gießkanne zu holen, hörte sie, wie jemand rief: "Komm mal mit, Lia! Maria hat ein Pferd gekauft! Da! Schau!" Es war Evita.
Lia hinkte ihr schnell hinterher.

"Anom, mein neues Pferd", sagte Maria mit gewichtiger Stimme. "Nun schwöre ewige Treue!"
Alle außer Runa und Jenny hatten sich bereits um Maria versammelt und brachen in Gelächter aus. Sie hielten den Schwur für ein Theater.
Doch Maria machte ernst weiter. Sie rief: "Hebe dazu dein linkes Vorderbein und sieh mir in die Augen!" Ihr war das nicht peinlich.
Das Publikum applaudierte.
Maria ritt stolz davon.

Christina fragte Greta: "Wie fändest du's eigentlich, wenn wir mal einen Film drehen und da alle Pferde haben?"
"Hmm... Na ja...", erwiderte Greta nur.
"Ich hab sogar schon einen Namen für mein Pferd!", rief Christina fröhlich.
"Und wie lautet der?", wollte Greta wissen.
"Negro!", antwortete Christina.
"Verstehe. Du willst einen schwarzen Hengst haben", sagte Greta.
"Ja!", schrie Christina."Einen schwarzen Andalusierhengst! Einen schwarzen, prächtigen Andalusierhengst!"
"Gibt's solche denn überhaupt?", fragte Greta.
"Natürlich gibt es solche! Oder... nee, jetzt bin ich mir doch nicht mehr sicher. Normalerweise sind Anderlusier ja Apfelschimmel. Schade", sagte Christina und setzte sich traurig auf den Boden.
"Kannst du denn nicht ein Pferd nehmen, das kein Andalusier ist, zum Beispiel ein Pura Raza Española?", fragte Greta.
"Nein. Ich will nämlich nur einen Andalusier, wenn überhaupt. Außerdem müssen wir diesen Film ja auch gar nicht machen. War ja nur ein Vorschlag", erwiderte Christina betrübt.
"Und warum willst du nur einen Andalusier?", wollte Greta wissen.
"Weil ich in Andalusien geboren wurde", war die Antwort.
"In welcher Stadt wurdest du denn geboren?", fragte Greta nach einer Weile.
"Jerez. Du?", sagte Christina.
"Danzig", antwortete Greta.
"Apropos geboren werden, morgen feiert Isabella ihren vierundzwanzigsten Geburtstag", sagte Christina.
"Ja. Ich bin eingeladen", sagte Greta.
Da kam Isabella. "Redet ihr über mich?", fragte sie. "Nee, über deinen Geburtstag", sagte Christina und lachte...

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