Kapitel 16: BFF - Aloscha und seine Wodkaflasche
Tanja ballte die Fäuste. "Glaub mir, Isabella", sagte sie, "die wollten mich wegen Mordversuch zu zwanzig Jahren Haft verurteilen! Eigentlich sollten es sogar fünfundzwanzig Jahre sein, aber sie haben noch eine kleine Gnade walten lassen, weil ich nur versucht habe, Greta umzubringen, es aber nicht ganz geschafft habe! Boah, das war so frech, dass sie überlebt hat! Sie hat sich in letzter Sekunde an einen kleinen Felsen gehangen und ist von dort aus langsam zu Boden getaumelt!"
Isabella hörte ihr gebannt zu. "Ja, echt spannend!", sagte sie.
Tanja lehnte sich zurück und sah Isabella ernst an. "Übrigens", sagte sie, "Marlen ist irgendwie abgehauen. Deshalb müsstest du morgen das Essen für Aloscha kochen. Tut mir leid, aber es ist so!" Sie zuckte so unschuldig wie möglich die Schultern. "Natürlich werde ich dich dafür mit einem Schmuckstück belohnen!", sagte sie nach einer kurzen Stille.
Isabellas Augen blitzten gierig. "Ja, natürlich, ich koche sehr gerne für Aloscha!", rief sie.
Tanja schmunzelte verschmitzt. "Das war die richtige Entscheidung, Isabella", sagte sie. "Würdest du für Aloscha nicht kochen, würde mit dir ähnliches geschehen wie mit Greta. Na ja, vielleicht nicht ganz so öffentlich. Du würdest einfach verschwinden..."
Isabella hob abwehrend die Hände. "Ich koche für ihn, keine Sorge!", sagte sie.
Tanja legte die Hände auf den Tisch. "Ich habe ja nur gesagt, was passiert, wenn du mir nicht... nun ja, gehorchst! Nun flipp nicht aus!"
Die Uhr schlug sieben.
Isabella machte das Abendessen, während Tanja sich auf das Sofa legte und vor sich hin dachte.
Marie und Franziska hatten das Abendessen schon gegessen und betätigten gerade die Spülmaschine.
"Na, freust du dich schon auf diese Zo... Zombie... wie auch immer?", fragte Franziska.
Marie nickte. "Ja, schon." Sie drückte auf einen Knopf von der Spülmaschine und setzte sich auf die Couch.
"Ja-ha, ich komme!", rief Marie, rieb sich schlaftrunken die Augen, zog schnell ihre Kleidung an und rannte zur Tür.
Franziska schlüpfte in ihre graue Jeans. "Das ist bestimmt diese... na... diese... Zombie oder so", sagte sie.
Marie machte die Tür auf.
Franziska hatte recht. Es war tatsächlich Zoe. "Hallo Marie, hallo Franziska! Da bin ich!", sagte sie.
"Hallo Zoe Williams!", sagte Marie.
Zoe sah interessiert zu Franziska, die sich gerade umzog.
"Nicht hinschauen, Zomb.. Zoe", schrie Franziska, "ich zieh mich grad um!"
Zoe setzte sich belustigt an den Tisch. Sie trug eine schwarze Jeans, ein gelb-rosa verlaufendes Top mit aufgedruckten tropischen Pflanzen, Aprikosen und Ananas, darüber eine graue Fleesjacke und weiße Sportschuhe.
Marie machte Kaffee. "Willst du was trinken, Zoe?", fragte sie.
Zoe nickte. "Ja, ja", sagte sie leichthin. Mit den Gedanken war sie aber noch bei dem peinlichen Vorfall mit Franziska. Diese setzte sich gerade zu ihnen und fragte Zoe: "Zoe, aus welchem Land kommen deine Eltern?"
"Jamaika", antwortete Zoe.
Marie nickte. "Aus dem Land, dessen Flagge die einzige ist, die kein Rot, kein Blau und kein Weiß hat."
"Mann, du kennst dich mit Ländern ja gut aus!", sagte Zoe erstaunt.
Franziska warf Marie einen anerkennenden Blick zu.
Marie grinste geschmeichelt und wechselte schnell das Thema. "Morgen ist Halloween. Wir müssten mal Süßkram besorgen, damit es später nichts Saures gibt."
"Oh, stimmt", sagte Franziska.
"Na dann... Auf gehts!", rief Marie. So machten sich Zoe, Marie und Franziska auf den Weg zu Aldi. Dort kauften sie Schokoriegel, saure Glühwürmchen, Gummibärchen, Schokobons und Kekse. Nachdem sie bezahlt hatten, gingen sie wieder zurück zu ihrer WG.
"Echt toll, unser Vorrat. Ich wünschte, ich könnte auch davon naschen", sagte Zoe.
Franziska räusperte sich. "Her-em-hem! Das Naschen steht nur den Kindern zu!"
Zoe lachte. "Ich hab ja schon verstanden!"
"Ich auch!", rief Maria.
Eva verdrehte die Augen. "Und das teuerste."
Paula zeigte auf ein graues Betongebäude. "Da ist das Restaurant auch schon!"
Die vier betraten das Gebäude und setzten sich an einen Tisch. Zu ihrer großen Verwunderung war das Restaurant extrem leer. Außer ihnen saßen noch vier Männer im Raum, sonst war es leer.Bobby kuschelte sich an Evas Fuß und schlief auf ihm ein. Als er Eva zu schwer wurde und sie ihren Fuß hob, suchte er sich sofort einen neuen Schlafplatz auf Marias Fuß. Kurz darauf kam ein Kellner auf Paula, Maria und Eva zu. Er war der grimmige Kellner. "Was darf's sein?", fragte er.
"Einmal Gericht Nummer Fünfzig, Schnitzel mit Kartoffeln und Sourcream", sagte Paula.
Der Kellner nickte und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. Dann sah er Maria an.
"Ich hätte gerne... " Maria stockte und zeigte auf kleine Druckbuchstaben in einer Ecke der Speisekarte:
Vielen Dank für Ihr Verständnis,
Ihr Restaurant-Team
"Was bedeutet das?", fragte Maria.
Der Kellner hob hochnäsig den Zeigefinger. "Das bedeutet genau das, was dort steht!"
Maria warf Eva und Paula einen Blick zu. "Wir kennen die beiden!", sagte sie.
"Sie heißen Nandre und Zarah Schuhmacher!", sagte Paula.
"Aha...", sagte der Kellner interessiert und schrieb etwas auf seinen Notizblock. "Wo wohnen sie denn?", fragte er, nachdem er fertig geschrieben hatte, und sah Paula, Maria und Eva neugierig an.
"Warum möchten sie das wissen?", fragte Paula ärgerlich.
"Nun ja...", sagte der Kellner, überlegte kurz und erklärte dann schnell: "Äh... Das... machen wir immer so! Das ist, äh, eine alte Familientradition! W-wussten sie das etwa noch nicht?" Er hüstelte und zupfte an seinem braunen Bart.
"Allerdings!", sagte Paula undf streifte den Kellner mit einem wütenden Blick.
"Wir wohnen in einer WG vor dem Abgrund", erklärte Maria.
Der Kellner schrieb schon wieder etwas auf. "Ach so, die WGs. Verstehe... Dann kennt ihr also Charlotte Hildebrandt?"
Maria nickte. "Ja, die hat neulich ein Baby bekommen."
Paula sah sie entsetzt an. Warum erzählt Maria diesem verdächtigen Kellner so viel?, dachte sie. Er nutzt diese Informationen zu einem üblen Zweck, das sieht man ihm an!
"Kann ich jetzt vielleicht mal meine Bestellung abgeben?", fragte Eva genervt.
Der Kellner zückte gestresst seinen Stift. "Jaaa... Natürlich."
Eva zeigte auf eine Nummer auf der Speisekarte:
62: Rindergulasch mit Käsespätzle und Soße
"Nummer Zweiundsechzig", erklärte Eva.
Der Kellner schrieb etwas auf seinen Notizblock.
Maria räusperte sich geräuschvoll.
"Ja?", fragte der Kellner entnervt.
"Ich hätte gerne Gericht Nummer Siebenundvierzig", sagte Maria.
Der Kellner schrieb die Bestellung auf und hastete davon.
"Der hatte es ja eilig!", sagte Paula. "Irgendwie zu eilig!"
Eva und Maria nickten.
Während Paula, Maria und Eva warteten, fiel Paula auf, dass die vier Männer neben ihnen sehr verärgert die Speisekarten anschauten.
"Viel zu teuer!", meckerte einer.
"So was müsste man verbieten!", rief ein anderer.
"Dass man bei solchen Preisen überhaupt noch Kunden kriegt!", regte sich noch ein anderer auf.
"Wie überleben die eigentlich bei den wenigen Kunden?", sagte der letzte.
Maria drehte sich um. "Ach, das sind doch die vom Tanzball!", sagte sie.
Paula nickte besorgt. "Da, der mit den braunen Haaren ist Jennys Tanzpartner, der mit dem grünen Pulli ist der, der ein grünes Polo-Shirt anhatte, der mit dem schwarzen Carhartt-Pulli ist der, der den zu großen Anzug anhatte und der rothaarige ist der, der das weiße Hemd anhatte. Bestimmt finden die das Essen hier viel zu teuer und werden deshalb später eine 'Lektion' kriegen."
"Wir müssen sie warnen!", sagte Maria.
"Könnt ihr doch machen. Ich mach da jedenfalls nicht mit. Das ist viel zu peinlich", sagte Eva.
"Kannst du das machen, Maria?", fragte Paula. "Ich will nicht, dass mir wieder so eine Katastrophe wie bei Nandre passiert."
Maria erhob sich. "Okay." Sie ging auf die Männer zu.
"Viel Glück!", flüsterte ihr Eva kichernd zu.
Maria grinste sie an und hob den Zeigefinger. "Was Sie da machen, ist gefährlich, meine Herren!", sagte sie.
Paula prustete los.
Die vier Männer sahen Maria irritiert an.
"Hä?", fragte der Mann mit dem grünen Pulli. "Was machen wir denn so gefährliches?"
Maria wedelte gespielt streng mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. "Es ist gefährlich, sich zu beschweren, meine Herren, denn die Herren Kellner sind sehr reizbar! Sie hassen es, wenn man kein Trinkgeld gibt oder die Gerichte zu teuer findet, meine Herren!" Sie nahm dem Mann mit dem grünen Pulli die Speisekarte aus der Hand und zeigte auf den Text über Nandre und Zarah. "Haben Sie das hier gelesen, meine Herren? Das ist ein Beispiel."
Der Mann mit dem grünen Pulli fluchte leise. "Warum...?!" Doch dann wurde er ernst und beugte sich über den Text. "Ha! Frechheit!", rief er.
Die anderen drei Männer beugten sich ebenfalls über den Text.
"Gut, dass Sie uns gewarnt haben", sagte einer schließlich.
Maria ging wieder zu Paula und Eva. "Mission erfüllt", sagte sie und stellte zufrieden fest, dass das Essen schon auf dem Tisch stand.
"Wir haben beobachtet, wie du sie erfüllt hast", sagte Eva, die bereits ihr Gulasch aß.
"Ich hätte an deiner Stelle anders gehandelt, aber gut. Lassen wir's", sagte Paula.
Maria begann zu essen. "Und, ist bei euch der Kellner vorbeigekommen?", fragte sie.
"Ja", sagte Eva mit vollem Mund, "aber wir haben ihn nicht beachtet. Wir haben uns auf deine peinliche Mission Männerrettung konzentriert."
"Genau!", nuschelte Paula und schnitt ihr Schnitzel in sechs Teile.
Die drei aßen ihr Essen auf, bezahlten, gaben Trinkgeld und gingen zurück zu den WGs. Dort erzählten sie von der Begegnung mit den Männern im Restaurant. Als sie fertig waren, war es schon spät.
Tanja und Isabella gingen in ihre WG hinein. "So, Isabella, jetzt kannst du kochen", sagte Tanja.
Isabella holte ein paar Zutaten aus dem Kühlschrank und begann zu kochen.
Tanja kämmte ihre roten Haare und schminkte sich. Dann betrachtete sie sich im Spiegel und holte einen golden schimmernden Ring aus ihrer Hosentasche, auf dem ein künstlicher roter Edelstein prangte. Auf dem Edelstein war ein goldenes Zeichen zu sehen. "Hier, Isabella, diesen hübschen Ring schenke ich dir, weil du für Aloscha kochst."
Isabella lief zu ihr. "Wow, der sieht ja schön aus! Was ist da für ein Symbol drauf?", rief sie.
Tanja fuhr sich stolz durch die Haare. "Das ist ein schönes kommunistisches Parteizeichen! Schade, dass du das nicht gewusst hast, aber ich... äh... vergebe dir natürlich! Ich habe den Ring in Moskau gekauft, als ich letztes Mal da war. Ja ja, eigentlich ist es schon viel zu lange her, dass ich dort war, ich müsste Mama Natascha und Papa Wladimir echt mal wieder besuchen... Aber leider bin ich ja jetzt deutscher Staatsbürger..." Tanja schwadronierte immer weiter. Plötzlich fuhr sie herum. Jemand klopfte energisch an die Tür.
Isabella steckte sich schnell den Ring an den Finger. "Darf ich doch, oder?", flüsterte sie und holte Besteck, Teller und Becher aus dem Regal.
Tanja machte die Tür auf. "Natürlich... Aber betör Aloscha nicht!"
"Ich doch nicht! Ich kenne diesen russischen Dieb doch gar ni..."
Aloscha kam hereingetrampelt und schmiss seinen großen Rucksack mit Militärmuster auf den Boden.
Tanja setzte ein attraktives Lächeln auf. "Priviet, Aloscha!", sagte sie. "Das ist Isabella Zharkylsynsyn, meine kleine süße kommunistische Unterstützerin aus Kasachstan!" Sie zeigte auf Isabella.
Isabella lächelte Aloscha nett an.
Aloscha beachtete sie gar nicht. Er trampelte mit seinen matschigen Stiefeln schmutzige Fußspuren auf den Boden und rauchte ihr mit seiner Zigarette eine ungesunde Tabakwolke mitten ins Gesicht.
Tanja warf ihm einen belustigten "Weiter-so"-Blick zu.
Aloscha grinste böse und holte eine große Wodkaflasche aus seinem Rucksack.
Tanja verdrehte die Augen. "Immer dieser Wodka! Hör auf damit!", schimpfte sie.
Aloscha hörte nicht auf sie. "Gläser her!", brüllte er und trank einen großen Schluck.
Isabella holte zwei Gläser und stellte sie auf den Tisch.
Aloscha schüttete den Wodka aus der Flasche auf den Tisch.
Tanja ging zu ihm. "Aloscha, du hast den Tisch überflutet!", sagte sie streng.
Aloscha machte eine zweite Flasche aus seinem Rucksack auf. "Mir doch egal!", brüllte er.
Tanja schnippte mit dem Finger. "Isabella! Herkommen!"
Isabella sah die Katastrophe und wischte mit einen Lappen den Tisch sauber.
"Puh, das hat ja ewig gedauert!", beschwerte sich Tanja.
Isabella ging in die Küche, um das Essen zu holen.
Tanja kicherte. "Es ist so spaßig, Isabella zu quälen! Sie wehrt sich ja gar nicht mal! Kasachstan ist nicht mehr unabhängig!"
Aloscha sagte nichts und trank einfach seinen Wodka.
"Jetzt sag doch mal was, Aloscha!", ärgerte sich Tanja.
Aloscha dachte gar nicht daran. "Wodka!", war das einzige, was er hervorbrachte.
Tanja und Aloscha ließen es sich den ganzen Abend lang so richtig gut gehen und kommandierten Isabella herum. Doch solange sie ihr schrottige Schmuckstücke versprachen, quälte sie sich recht gerne für die beiden.
Isabella war müde und es fiel ihr schwer, nicht umzukippen und einzuschlafen.
Aloscha und Tanja stritten sich wegen dem Wodka und prügelten sich sogar. Irgendwann konnte sich Aloscha nicht mehr wehren, weil er zu viel Wodka getrunken hat, und wurde von Tanja ohnmächtig geschlagen.
Am nächsten Morgen war er verschwunden.
Tanja war reizbar und nervös.
Isabella versuchte krampfhaft, sie aufzuheitern.
Doch Tanja hatte schlechte Laune und daran ließ sich nichts ändern.
Schließlich ging ihr Isabella einfach aus dem Weg.
Nandre lächelte gequält. "Sehr hübsch, Zarah!" Er drehte sich um und lief schnell zum Auto, wo er eine spezielle Scheibenwischer-Flüssigkeit in den Motor goss.
Nandre lief wieder zu ihr. "Das war wichtig", sagte er, "sonst würde unser Scheibenwischer nicht mehr funktionieren. Aber jetzt hab ich ja wieder Zeit für dich, Schatzi."
Zarah drehte den Kopf weg. "Ach was." Sie pflückte eine weiße Rose und flocht sie sich ins Haar.
Fünfzehn Minuten später saßen Zarah und Nandre in Nandres großem silbernem Auto und fuhren zu den WGs. Sie wollten Lina und Julia besuchen, da sie die beiden schon ewig nicht mehr gesehen hatten. Die ganze Fahrt lang schwiegen sie. Als sie bei der WG von Lina und Julia ankamen, regnete es.
Nandre holte schnell einen Regenschirm aus dem Auto und spannte ihn über Zarah auf. Gemeinsam liefen die beiden die wenigen Meter zur Tür. Dort klingelten sie bei dem Schild: Chen/Schuhmacher
Die Tür ging auf. Zarah und Nandre liefen eine Treppe hinauf und blieben vor der Tür von Linas und Julias WG stehen. Direkt neben der Tür war ein Briefkasten mit diesem gelben Aufkleber: Bitte keine Werbung/keine Zeitung
"Hallo, wir sind es!", rief Zarah.
Nandre klappte den Regenschirm zu.
Die Tür wurde aufgemacht. Vor Zarah und Nandre standen Lina und Julia.
Zarah und Nandre zogen ihre Schuhe aus und betraten die WG.
Lina und Julia lächelten die beiden freundlich an.
"Endlich nach langer Zeit seid ihr mal wieder zu Besuch!", sagte Lina.
Zarah sah sich um. "Bei euch hat sich ja gar nichts verändert!", sagte sie schließlich. "Alles ist immer noch genauso chaotisch und unaufgeräumt wie früher. Tja, ich sag mal so, bei uns in der Villa sieht es anders aus..." Zarah fuhr sich angeberisch durch die Haare und machte dabei die weiße Rose aus dem Garten sichtbar.
Lina beachtete das nicht und stemmte empört die Hände in die Hüften. "Aber wirklich, Zarah! Wir haben aufgeräumt! Es sieht gar nicht chaotisch aus!"
Julia nickte bestätigend. Die beiden hatten wirklich aufgeräumt.
Zarah hörte Lina gar nicht zu. Sie zwirbelte sich arrogant eine Haarsträhne und versuchte, wieder auf die schöne Rose aufmerksam zu machen.
Bei Lina funktionierte das nicht, doch Julia betrachtete die Rose etwas wehmütig und Zarah meinte, in ihren Augen einen verträumten "Hätte-ich-mit-Mark-bloß-auch-so-einen-tollen-Garten"-Blick zu erkennen.
Sie blickte abschätzig zu Linas abgewetzter Jeans und Julias altem Rock und rümpfte etwas angeekelt die Nase. "Gut, dass wir so reich sind", flüsterte sie Nandre ins Ohr. "Sonst würden wir jetzt so ärmlich und schmutzig aussehen wie Lina und Julia."
Nandre kicherte schadenfroh.
Lina streifte die beiden mit einem wütenden Blick. "Was flüstert ihr da über uns?", rief sie und sah traurig zu Julia, die aber nur hilflos die Schultern zuckte.
"Nix!", rief Zarah gereizt und strich ihren Rock glatt.
Nandre legte ihr schützend den Arm um die Schulter.
Lina und Julia gingen zum Tisch. "Hier, ihr könnt essen", sagte Julia leise. Sie wies auf zwei Schüsseln mit Obstsalat.
Zarah und Nandre nahmen Platz und starrten den mit viel Mühe hergestellten Obstsalat irritiert an. Sie sahen so aus, als ob der Obtsalat etwas ekliges, unappetitliches wäre, was sie auf keinen Fall anrühren wollten.
Lina seufzte enttäuscht. "Zarah, Nandre, jetzt esst das doch endlich! Ihr verderbt uns noch den Tag mit eurer Arroganz!"
"Die Zutaten waren echt teuer. Kurz dachten wir schon, wir haben gar kein Geld mehr", sagte Julia traurig.
Nandre biss zögerlich in eine Kiwi, verzog das Gesicht und schluckte die Kiwi mühsam runter. "Eure finanzielle Lage ist ja ganz schön katastrophal", sagte er. "Echt krass." Nandre grinste.
Zarah stocherte in einem Ananas-Stückchen herum. "Wir haben gar keine finanziellen Probleme. Ich hab sogar mein Studium abgebrochen, weil ich keinen Job mehr zu haben brauche. Und Nandre wird bald auch gar nicht mehr arbeiten müssen."
Lina sah sie unzufrieden an. "Angeberin", murmelte sie und warf einen neidischen Blick auf die Rose.
Zarah bemerkte das und sagte: "Die ist aus unserem Garten. Dort ist ein schöner Kiesweg, auf dem weiße Bänke stehen. Voll romantisch. Da können wir uns immer küssen und den Sonnenuntergang angucken." Sie kicherte.
Nandre stupste sie begeistert mit dem Ellenbogen an. "Im Garten blühen rote und weiße Rosen, mit denen wir auch bei unserer Hochzeit die Limousine geschmückt haben."
Lina ballte die Fäuste. Sie fühlte sich, als versinke sie im Boden, so neidisch war sie.
Doch Zarah und Nandre interessierten sich überhaupt nicht für ihre Gefühle. Sie schwadronierten einfach arrogant weiter und trieben Lina und Julia so noch an den Rand der Verzweiflung.
Plötzlich klingelte es.
Zarah und Nandre taten so, als hätten sie das laute Klingeln überhört.
Lina und Julia rannten zur Tür und machten sie auf.
Vor ihnen stand eine Gruppe von Kindern, die als Hexen, Zauberer, Gespenster, Zombies, Vampire und Fledermäuse verkleidet waren.
Ein Mädchen hielt eine große Plastiktüte in der Hand, die schon bis zur Hälfte mit Süßigkeiten gefüllt war. Es gab den anderen Kindern ein Zeichen und sie begannen zu sagen: "Hallo, wir sind die bösen Geister und essen gerne Kleister. Ihr müsst uns etwas geben, sonst bleiben wir hier kleben."
Lina wühlte gestresst in ihren Hosentaschen und holte schließlich zwei verbogene Schokoriegel heraus.
Das Mädchen riss sie ihr aus der Hand und schmiss sie in eine Tüte.
Lina ging zum Tisch.
Die Kinder wollten gerade meckernd weggehen, als Julia mit einem mit Süßigkeiten gefüllten Stoffbeutel zu ihnen ging und den gesamten Inhalt des Beutels in die Tüte des Mädchens kippte. Dann machte sie die Tür zu.
"Die waren total komisch!", hörte sie das Mädchen noch kreischen.
Bald darauf klingelte es wieder.
Julia machte auf.
Ein kleiner als Geist verkleideter Junge stand mit seiner Mutter in der Tür und sagte leise: "Süßes oder Saures."
Julia zeigte ihm den leeren Beutel. "Ich hab leider nichts mehr, du kleines Gespenst", sagte sie und tippte dem kleinen Jungen mit dem Finger auf die Nase.
Der kleine Junge lutsche traurig an seinem Daumen.
Julia zuckte mitleidig die Schultern. "Lina, hast du noch was?", rief sie.
Lina rannte schnell in die Küche und kam bald darauf mit ein paar alten Haferkeksen zurück. "Nur das", sagte sie.
Julia nahm die Haferkekse und legte sie in den Beutel vom Jungen.
Dieser hopste fröhlich quiekend auf und ab.
Seine Mutter nahm ihn bei der Hand und ging schnell mit ihm weg. "Jetzt hast du aber genug gesammelt. Du musst jetzt ins Bett", schimpfte sie.
Vanessa, Vera und Lisa zum Beispiel waren hingegen gar nicht mehr müde und aßen schon das Frühstück. Danach putzten sie die Zähne und machten das, was sie nach dem Zähneputzen immer machten.
Lisa setzte sich vor den Fernseher, Vera ging einkaufen und Vanessa goss die Pflanze in ihrem Zimmer.
Vera machte die wohl spannendste Sache von den dreien, denn auf dem Weg zum Supermarkt traf sie Charlotte mit Merle.
Merle schrie aus Leibeskräften.
Charlotte redete gestresst auf sie ein und lief mit schnellen schritten zu ihrer WG. In ihrer linken Hand hielt sie ein Handy, aus dem wütendes Brüllen drang. Ihr rann Schweiß über die Stirn.
Vera hatte Mitleid mit ihr. Charlotte musste einen richtig stressigen Tag haben, so schien es ihr. Merle schien es auch nicht besser zu gehen. Auch mit Merle hatte Vera Mitleid. Das Baby weinte und schrie.
Charlotte schien es nicht beruhigen zu können.
Vera ging einen Schritt auf Charlotte zu. "Kann ich dir helfen?", fragte sie hilfsbereit.
Charlotte hörte ihr gar nicht zu. Sie war zu viel mit der schreienden Merle und dem brüllenden Handy beschäftigt.
Vera machte noch einen Schritt auf sie zu und versuchte es nochmal: "Kann ich dir he..."
Charlotte unterbrach sie. "Ich hab dich schon gehört!" Sie streckte gestresst den Arm aus und schob Vera unsanft weg.
Vera seufzte. "Kann ich dir jetzt helfen oder nicht?", fragte sie, nachdem sie sich Charlotte wieder genähert hatte.
Charlotte lief einfach weiter. Vera dachte schon fast, sie würde nicht mehr antworten, da schrie sie wütend: "Nein!"
Vera wich einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.
Plötzlich kreischte Merle so laut, dass Vera fast umfiel: "Mami! Du böse! Nich essen! Essen böse!"
Charlotte schrie das Baby daraufhin an: "Schrei doch nicht so! Ich muss telefonieren, kapierst du das nicht? Jetzt lauf zu Anne und Carla und iss das Gemüse!" Sie schubste Merle vor die Tür ihrer WG und eilte davon.
Merle blieb wütend winselnd vor der Tür zurück. "Mami! Du böse! Essen böse!", schrie sie.
Doch Charlotte konnte sie schon nicht mehr hören und redete laut auf das Handy ein. Die Wörter, die Vera noch verstehen konnte lauteten: "Nein!", "Niemals!", "Warum?", "Erpressung!", "Merle!", "Schuld!" und "Keine Lust!"
Charlotte stritt sich mit jemandem, da war sich Vera sicher, nur mit wem? Die Stimme des Menschen, der sich mit Charlotte stritt, war tief und barsch. Es war eindeutig eine Männerstimme.
Vera wollte Charlotte helfen, doch sie konnte sie nicht mehr einholen. Seufzend ging sie zu Merle. "Arme Merle", sagte sie, "deine Mutter hat gerade ziemlich viel Stress. Soll ich dir helfen, bei Anne und Carla zu klingeln?"
Merle weigerte sich. Sie verschränkte die kurzen Ärmchen unzufrieden vor der Brust und starrte Vera sauer an.
Vera konnte ihre Emotion gut verstehen, doch sie wollte ihr unbedingt helfen. Also setzte sie ein freundliches Lächeln auf und nahm Merle sanft in die Arme. "Ich helfe dir, zu Anne und Carla zu kommen!", sagte sie und hob Merle hoch, sodass diese das Schild mit folgender Aufschrift erreichen konnte:
Hildebrandt/Amadou/Winter
Vera setzte sie wieder auf dem Boden ab und ging schnell zum Supermarkt, da sie das schon sehr lange verzögert hatte.
Die Tür ging auf, denn Anne hatte sie geöffnet.
Merle rannte für ihr Alter mit erstaunlich schnellen und sicheren Schritten ins Gebäude. Offenbar war sie eines der Kinder, die schon sehr früh gehen konnten.
Anne begleitete sie bis zur Tür der WG. Als Merle die Küche betrat, strömte ihr ein unangenehmer Gestank von schnell mal fertiggekochtem Dosengemüse entgegen. "Nicht essen! Essen böse!", kreischte Merle.
Anne wedelte streng mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase herum. "Du musst das essen, das hat Mami gesagt! Los, kusch kusch, iss das!", sagte sie.
Merle drehte sich um und stolzierte auf ihren kurzen Beinchen beleidigt aus der Küche. "Anne böse!", schrie sie und begann zu weinen.
Anne verschränkte die Arme. "Aber, aber, Merle! Ich soll jetzt doch nicht etwa mit dir streiten?! Los, iss!"
Merle dachte gar nicht daran. Sie lief schnurstracks auf Carla zu und ließ sich dabei nicht beirren.
Anne wurde langsam böse. "Wo bleibt dein Gehorsam, Merle? Los, Marsch, komm her und iss, ob es dir jetzt gefällt oder nicht!"
Merle gab nach. Sie ging langsam zum Tisch, ließ sich von Anne in ihren Hochstuhl tragen und begann zu essen. Doch schon nach dem ersten Happen spuckte sie das Gemüse unhöflich auf den Tisch. Dann betatschte sie das Essen angeekelt mit ihren kleinen, unhygienischen Patschhändchen.
Anne beobachtete sie dabei interessiert. Nach einer Weile machte es Merle sogar sehr viel Spaß, mit ihren Händchen im Gemüse rumzuwühlen. Doch nach einigen Minuten verlor sie den Spaß daran auch schon wieder. Sie kreischte: "Hände dreckig! Dreck weg!"
Anne trug sie zum Waschbecken und wusch ihr die Hände.
Merle ließ sich jedoch nicht gefallen, dass das Wasser kalt war, und strampelte wütend mit den Armen.
Als Anne fertig war, ihr die Hände zu waschen, trug sie sie zu Carla. "Kümmer du dich mal um Merle, dieses ungehorsame Biest!", sagte sie.
Carla nickte. "Ja, ja, sehr gerne", sagte sie leichthin. Sie wollte einen alten Teddy holen, damit Merle mit ihm spielen konnte, doch Merle hielt sie an ihren Haaren fest.
"He, ich will einen Teddy für dich holen!", beschwerte sich Carla.
Merle ließ nicht los. Stattdessen sabberte sie Carlas Haare an und verfilzte sie.
Carla wollte sich losreißen, doch da biss sie Merle.
Carla rief Charlotte an.
Bald darauf kam Charlotte. "Merle, was du da machst möchte Carla nicht! Heute bist du echt frech!", sagte sie.
Merle starrte Charlotte wütend an. "Mami böse!", winselte sie.
Charlotte verschränkte die Arme. "Merle, das darfst du nicht sagen!", schimpfte sie.
Merle lief beleidigt zum Essen und fing wieder an zu betatschen. "Mann Merle", sagte Charlotte, "jetzt hast du dein Essen schon wieder nicht aufgegessen. Ich hab mich hier totgekocht und jetzt machst du es wieder nur ekelig. Und die armen Kinder in Afrika haben wieder nichts zu essen." Sie seufzte.
Merle kicherte. "Carla Afrika! Carla nix su essen!"
Charlotte schnappte Merle wütend den Teller aus den Händen. "Das ist nicht witzig, Merle! Darüber darf man nicht lachen!"
Merle sah dem Teller überrascht hinterher, dann begann sie zu kichern. "Mami, du Essen jetzt essen! Nix meins Essen!" Sie zeigte lachend auf Charlotte.
Charlotte stellte den Teller mit voller Wucht in die Spüle, sodass es klirrte. "Jetzt hab ich aber keine Zeit mehr für dich, Merle! Ich muss jetzt telefonieren. Geh jetzt in dein Zimmer!", rief sie und verließ mit federnden Schritten die WG. Draußen holte sie ihr Handy aus der Hosentasche und begann wieder zu telefonieren.
Kaum hatte Charlotte das Gebäude verlassen, flitzte eine vermummte Gestalt mit einem Telefon am Ohr in ihr Zimmer und hinterließ folgende Botschaft:
Gib Merle her, oder du musst dich auf meine Wut gefasst machen! 🕱 Und wie du mich kennst, Charlotte, kann meine Wut SCHRECKLICH sein! Sie kann TÖDLICH sein! ☠
K. F.
PS: Meine Initialen genügen dir ja warscheinlich schon, um Angst vor mir zu haben. Du kennst mich ja ... Aber keine Bange, ich werde dich ja bloß nur ... 💣!
Keine Grüße
Nicht dein du-kennst-mich oder (anders formuliert) K. F.
Als Charlotte wieder zurückkam, die Botschaft entdeckte und sich wunderte, wie die Gestalt wohl hineingekommen sei, konnten sie ihr nicht helfen. Charlotte wurde daraufhin sehr unruhig und zerknüllte den Drohbrief...
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